Wer erinnert sich noch? Anfang des Jahrhunderts lief in der Schweiz der preisgekrönte Dokumentationsfilm «Mais im Bundeshuus». Fünf Parlamentarier streiten sich über ein Gesetz zur Gentechnik. Mit dabei: Jacques Neirynck. Rational wie es sich für einen ETH-Professor gehört, appelliert er an seine Ratskollegen, die Ideologie doch bitte auf der Seite zu lassen bei der Beratung. Damals war der Waadtländer CVP-Politiker bereits der älteste Parlamentarier in Bern.
Nun, 16 Jahre später, könnte dem 87-jährigen Neirynck ein für unmöglich gehaltenes Comeback gelingen. Grund ist der kolossale Fehltritt von Claude Béglé, der sich mit seinen euphorischen Tweets aus Nordkorea selbst innerhalb seiner Partei ins Abseits gestellt hat.
Béglé führt als amtierender Nationalrat die Waadtländer CVP-Liste für die Nationalratswahlen an. Nach seinem groben Patzer ist allerdings zweifelhaft, ob er sich als Kandidat halten kann. Und selbst wenn er antritt, ist höchst unsicher, ob ihm die Bevölkerung seine unüberlegten Äusserungen verzeihen wird.
Erben könnte den Sitz Neirynck, der die CVP bereits von 1999 bis 2003 sowie von 2007 bis 2015 im Nationalrat vertreten hatte. Dies wäre an Symbolwert kaum zu überbieten. Denn: Béglé und Neirynck sind erbitterte Gegner.
Ideologisch steht Neirynck weiter links als Béglé. Doch vor allem unterscheiden sich ihre Charaktere. Hier der feingeistige und hochgebildete Neirynck, der nicht nur als Wissenschafter Karriere gemacht hat, sondern mit beträchtlichem Erfolg auch Romane und Sachbücher schreibt. Da der durchsetzungsstarke Ökonom Béglé, der den grossen Auftritt liebt, als Post-Präsident allerdings nach zehn Monaten bereits sein Pult räumen musste.
2011 nahm Béglé den Sitz von Neirynck zum ersten Mal ins Visier. Unsummen von Geld steckte er in seinen Wahlkampf, trotzdem behielt Neirynck die Nase vorne. Damit begann die Schlammschlacht so richtig. Die Parteispitze setzte Neirynck unter enormen Druck zurückzutreten. Einen Tag nach der Wahl sei der Präsident der Waadtländer CVP bereits vor der Türe gestanden und habe ihn zum sofortigen Rücktritt aufgefordert, sagte Neirynck gegenüber den Medien.
Neirynck seinerseits weigerte sich zurückzutreten, obschon er damals die 80 Jahre bereits überschritten hatte. Schliesslich kam es zum Eklat. Für die Wahlen 2015 verbannte die CVP den ETH-Professor auf die Seniorenliste der Partei. Damit war der Weg frei für Béglé, der sich auf der Hauptliste locker durchsetzte und damit den lang ersehnten Sprung nach Bern schaffte.
Dass nun ausgerechnet Neirynck von Béglés Fehltritt profitieren könnte, wäre bester Stoff für einen seiner Politthriller. Zu seinen Wahlchancen wollte sich Neirynck am Mittwoch nicht äussern. Er wolle zuerst die ausführliche Erklärung von Béglé zu seiner Nordkorea-Reise hören, sagte er.
Als Neirynck 1999 gewählt wurde, war er mit 68 Jahren bereits der älteste Parlamentarier in Bern. Nun 20 Jahre später würde er als 88-Jähriger in den Nationalrat eintreten. Ist der hektische und laute Parlamentsbetrieb wirklich das Richtige für einen, der vor 23 Jahren ins Pensionsalter eingetreten ist? Neirynck sieht kein Problem. «Ich habe noch genug Energie», sagt er. Er schreibe zwei Artikel pro Woche und jährlich ein Buch. Und überhaupt: «Ich habe in Bern nie Stress verspürt, sondern vielmehr eine allgemeine Benommenheit.»
Stolpert Béglé über seine unbedachten Worte, hat Neirynck gute Chancen. Selbst auf der unpopulären Seniorenliste machte er vor vier Jahren nach Béglé das beste persönliche Ergebnis. Nun ist er auf der Hauptliste. Die CVP steht zwar unter Druck, doch da der Kanton Waadt einen Sitz mehr zu vergeben hat, sind ihre Chancen intakt, den Sitz zu halten. (aargauerzeitung.ch)