Anfang 2017 kontaktiert eine ETH-Doktorandin die damalige Ombudsperson der Hochschule. Sie und weitere Doktoranden richten schwere Vorwürfe an die Adresse ihrer Astronomie-Professorin Marcella Carollo. Diese reichen von Führungsschwäche über respektloses Verhalten bis zu Diskriminierung von Mitarbeitenden.
Über Jahre soll Carollo Doktoranden schikaniert haben. Oftmals soll sie einen abfälligen Ton an den Tag gelegt haben, auffallend häufig gegenüber Frauen.
Ein Doktorand erzählt im «Tages-Anzeiger»: «Sie tippte mir auf die Stirn und sagte, dass mein Gehirn zu klein für die Inhaltsaufnahme sei.» Laut einer weiteren Doktorandin hat Carollo Frauen aufgefordert, weniger Zeit für Make-up und mehr für die Forschung zu verwenden. Die Zeitung schreibt weiter, Carollo könne sich nicht daran erinnern, solche Äusserungen gemacht zu haben.
Der Ombudsmann zeigt sich erschrocken und wird aktiv, indem er weitere aktuelle und ehemalige Doktorierende von Carollo kontaktiert. Das zeigen Recherchen des Online-Magazins «Republik», welches den Fall aufarbeitete.
Im gleichen Zeitraum ist Carollo offenbar mit der Leistung der zuerst genannten Doktorandin nicht zufrieden und plant, das Betreuungsverhältnis niederzulegen. Das tut sie dann auch Ende Januar 2017.
Im Frühjahr 2017 wendet sich die Ombudstelle der ETH mit einem ausführlichen Bericht an ETH-Präsident Lino Guzzella. Marcella Carollo kritisiert, die Schilderungen der Doktoranden seien darin nicht auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft worden.
Die Schulleitung ergreift Massnahmen: Sie schliesst das Institut für Astronomie und schickt Carollo sowie ihren Ehemann Simon Lilly, ehemaliger Departementschef, in ein Sabbatical – mit der Aussicht auf Rückkehr an die Hochschule. Schlichtungsversuche gibt es laut der «Republik» keine.
Im Herbst 2017 kommt der ETH-Rat zum Schluss, dass die gegen Carollo erhobenen Vorwürfe am ehemaligen Institut für Astronomie näher untersucht werden müssen. Die ETH gibt eine Administrativuntersuchung bei einem unabhängigen Experten in Auftrag. Die Nachricht von den Mobbing-Vorwürfen an der renommiertesten Schule verbreitet sich wie ein Lauffeuer.
In dem Fazit der Untersuchung heisst es, Carollo habe eine Komplott-Theorie entworfen. Sie sehe sich als Opfer einer Rufmordkampagne, mit der gescheiterte Doktorandinnen und Doktoranden sie diskreditieren wollten. Auch der damalige Ombudsmann sei in die Kampagne gegen sie involviert.
Laut der Untersuchung überzeugt diese Theorie nicht. «Das Fehlverhalten von Professorin Carollo reicht viel weiter zurück und ist aufgrund der Bemühungen einer Doktorandin nunmehr ans Tageslicht gekommen», zitiert der «Tages-Anzeiger» aus dem Bericht der Untersuchung. Inhaltlich hält die Kommission eine Kündigung deshalb für gerechtfertigt.
Doch sie hält ebenfalls fest, dass eine Entlassung juristisch wohl nicht gerechtfertigt sei. Die Professorin sei erst spät verwarnt worden und habe dadurch keine Möglichkeit gehabt, ihr Verhalten anzupassen.
Carollo bemängelt indes, dass sie keine Einsicht in die Akten erhalten hat. Sie kenne den genauen Wortlaut der Anschuldigungen nicht. Man verberge vor ihr, was konkret gegen sie vorliege, und nehme ihr so die Möglichkeit, sich zu verteidigen.
ETH-Präsident Joël Mesot hat dafür kein Gehör. Er beantragt diesen Frühling beim ETH-Rat die Entlassung der Professorin.
Als dies bekannt wird, spring Carollos Kollegin, die Physikprofessorin Ursula Keller, ihr zur Seite. In einem Interview mit der «Republik» äussert Keller harsche Kritik am Entscheid.
Sie spricht ausserdem von Führungsmängeln an der ETH, Sexismus und Korruption; es habe zu viele Ungereimtheiten gegeben, als dass man ihre Kollegin mit gutem Gewissen habe entlassen können. «Mit einem männlichen Professor wäre man anders umgesprungen», so Keller.
Carollo erhält definitv den blauen Brief. Am Montag teilt das zehnköpfige ETH-Gremium mit, es habe entschieden, dem Antrag der Schulleitung zu folgen. Es ist das erste Mal in der 164-jährigen Geschichte der Hochschule, dass diese einen Professor oder eine Professorin entlässt.
Man habe der Professorin das rechtliche Gehör gewährt und dabei ihre Stellungnahmen sowie auch alle früheren Stellungnahmen und Untersuchungen eingehend gewürdigt, schreibt der ETH-Rat. Nach ausführlicher Diskussion sei der Rat aber an der Sitzung vom 10./11. Juli zum Schluss gekommen, dem Entlassungsantrag zu folgen.
Der Rat hält die Vorwürfe gegen Carollo für gerechtfertigt. Das Fehlverhalten sei mit den Erwartungen an die Betreuung von Doktorierenden und der Kultur der Hochschule nicht vereinbar.
Carollo selbst wolle derzeit keine Stellung beziehen, lässt ihr Anwalt Martin Farner auf Anfrage verlauten. Doch sie will den Entscheid nicht auf sich sitzen lassen; Farner prüft momentan eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.
Der Fall hat bereits jetzt Konsequenzen an der Hochschule. Die Doktoranden der ETH werden künftig von mindestens zwei Personen betreut. Zudem wurden ein Case-Manager eingestellt sowie die Ombudsstelle und die Anzahl der Vertrauenspersonen aufgestockt.
Dass in 164 Jahren kein einziger Professor und keine Professorin entlassen werden musste, übertrifft sogar die Unfehlbarkeit der katholischen Kirche. 😇