Jetzt, wo bekannt ist, dass sich der Kettensägen-Mann von Schaffhausen über Wochen in einem Waldstück im Zürcher Weinland eingenistet hat, rücken Waldmenschen in den Fokus. Was sind das für Leute, die abseits von der Zivilisation ihre Bleibe einrichten? Fest steht: Es sind keine Amokläufer. Franz W. ist ein Einzelfall in der Szene.
In den letzten Jahren wurden durch die Medien rund ein Dutzend Waldbewohner bekannt. Obwohl ein Leben im Wald eigentlich verboten ist, werden sie geduldet. Zumindest die, von denen man weiss. Viele andere fallen nicht auf. Sei es, weil sie ihr Zuhause nur temporär ins Unterholz verschieben oder weil sie gut versteckt sind.
«Uns ist niemand bekannt, der für die Gesellschaft gefährlich wurde», sagt Silvio Flückiger, Leiter der Berner Organisation für Prävention, Integration, Toleranz (Pinto). Flückiger weiss, wovon er spricht. Seit Jahren steht sein Team in Kontakt mit Obdachlosen – darunter auch solche, die sich ins Berner Unterholz verziehen.
Diese lassen sich drei Typen zuordnen. Zum einen gibt es die Arbeitsmigranten. Finden sie nicht auf Anhieb eine Stelle, verlieren manche ihre Wohnung und ziehen dann fürs Erste in einen Park. Werden sie dort entdeckt, flüchten sie in den Wald. Dort halten sie so lange durch, bis sie neue Arbeit finden.
Dann die Randständigen. Bei ihnen ist die finanzielle Not nur ein Grund für den Umzug in den Wald. Die prekäre Gesundheit der andere. Oft sind sie suchtkrank und leiden unter psychischen Problemen. Gerade wenn jemand seine Medikamente nicht mehr nimmt, können Verfolgungswahn und andere Störungen überhandnehmen. Die angstgetriebene Flucht kann im Wald enden. «Diese Menschen sind mehr eine Gefahr für sich selbst als für andere», sagt Flückiger.
Zuletzt gibt es noch den Typus «Chrütli» – oder «Höhlen-Willy». Letzterer hat sich in Wenslingen im Kanton Baselland in einer Höhle eingerichtet. Richtig häuslich. Solarleuchten, die den Weg zur Höhle säumen, ein Cheminée zum Grillieren, ein kleiner Gemüsegarten auf einer schmalen Terrasse am Hang, der Eingangsboden mit Platten veredelt – Höhlenfeeling kommt hier nicht auf.
Kein Wunder, der Mann lebt schon seit dreissig Jahren an diesem Waldabhang. Jedenfalls sagt das die Dorfbevölkerung. «Höhlen-Willy» selbst ist nicht zuhause, als wir an seiner Tür klopfen. Wahrscheinlich ist er am Wandern in den Bergen oder auf einer ausgedehnten Velotour. «Das macht er gerne», sagt eine Dorfbewohnerin.
«Höhlen-Willy» ist nicht menschenscheu. Eine Dorfbewohnerin erinnert sich, wie sie und zwei andere Frauen einmal für ihn Modell gestanden sind, als er für eine Firma Dutzende von Kochschürzen fotografieren musste. Auch Fritz Wyser, der oberhalb Biel im Wald lebte, ist ein Beispiel dafür, dass einige Waldmenschen Gesellschaft schätzen: Er empfing immer wieder Leute in seiner Hütte.
Die Sozialpsychologin Selma Rudert hat eine Erklärung für die selbst gewählte Abgeschiedenheit im Wald: «Manche Menschen, die sich über lange Zeit zurückziehen, haben schlechte Erfahrungen gemacht – sei es durch individuelle Zurückweisung oder soziale Ausgrenzung.» Der Rückzug ist dann ein Versuch, weiteren Verletzungen zu entgehen. Eine Flucht vor der Gesellschaft. In manchen Fällen kommt ein Teufelskreis in Gang. «Durch den Rückzug in die Einsamkeit, können sich bestehende Probleme verstärken», sagt Rudert, die an der Universität Basel zu sozialer Ausgrenzung forscht.