Rasch hatte das neu zusammengesetzte Parlament gewichtige Geschäfte auf der Traktandenliste. Fast ebenso bald aber gab es gar keine Traktandenliste mehr. Als sich die Coronakrise zuspitzte, brach das Parlament seine Session ab. Der Bundesrat entschied alleine per Notrecht. Das Parlament: schockgefroren. Bis es wieder aufgetaut und warmgelaufen war, dauerte es seine Zeit. Wichtige Anliegen brauchten so länger. Dabei gab es durchaus Geschäfte, in denen das Parlament dem Bundesrat «Beine» machen musste.
Bei den Entschädigungen für Geschäftsmieten oder auch bei der Hilfe für Sportligen und Betroffene, die bei den Hilfsmassnahmen des Bundesrates aussen vor geblieben waren. Dort kam es erst auf Nachdruck der Ratskammern zu den Lösungen, die aus Sicht der Volksvertreter nötig waren.
Das Parlament sei während der Krise eine «Nebendarstellerin, wenn nicht sogar Zuschauerin» gewesen und habe seine Verantwortung als oberste Gewalt und als Kontrollorgan des Bundesrates nicht wahrgenommen, kritisierte Staatsrechtler Andreas Glaser. Massnahmen werden nun diskutiert. Seit Mai allerdings ist das Parlament wieder aktiv.
Zuerst tagte es in grossen Messehallen, später in einem mit Plexiglaswänden verbarrikadierten Bundeshaus. Die Entscheide des Bundesrates haben die Ratskammern fast kritiklos in ordentliches Recht überführt. Das Parlament selbst ist jetzt daran, die staatspolitischen Mängel, die sich in der Krise zeigten, zu beheben. In der nächsten Krise will es auch seine Rolle spielen können.
Bis zum 20. Oktober 2019 hatte die SP mit 54 Sitzen das links-grüne Lager angeführt. Die Grünen galten mit ihren 13 Sitzen als Juniorpartner. Die grüne Welle erschütterte diese alten Gewissheiten grundlegend. Die Grünen-Fraktion gewann 22 Sitze und kommt neu auf 35 Sitze. Sie katapultierte sich damit in die Nähe der SP, die sechs Sitze verlor und neu auf 48 Sitze kommt.
Das Verhältnis zwischen Grünen und SP änderte sich atmosphärisch spürbar. In den Kommissionen und in der Öffentlichkeit treten die Grünen selbstbewusster und auf Augenhöhe mit der SP auf. Sie emanzipieren sich auch in ihrer politischen Arbeit. Bis 2019 hielten sie ihre Vorstösse oft bewusst radikal und nahmen ein Scheitern in Kauf. Mit ihrem Wahlerfolg hat die grüne Fraktion ihre Strategie angepasst. Sie sucht mit gemässigteren Vorstössen Mehrheiten. Sie will ihre Ideen ins Ziel bringen – und ihre Tauglichkeit für den Bundesrat beweisen.
Die Grünen mussten aber auch Rückschläge einstecken. Ihr Anspruch auf einen Bundesratssitz fand zumindest vorläufig kein Gehör. Vor allem sind die Grünen mit der Bewegung Klimastreik in den Clinch geraten. Diese trug stark zum Wahlerfolg bei und hat sich enttäuscht von der institutionellen Politik abgewendet – und damit auch von den Grünen. Das Verhältnis zwischen Grünen und SP hat sich nach kurzen Turbulenzen wieder entspannt.
Grünen-Präsident Balthasar Glättli und die künftigen SP-Co-Chefs Mattea Meyer und Cédric Wermuth sprachen über die Zusammenarbeit und beschlossen eine Art Nichtangriffspakt. Die Parteien sollen über ihre eigenen Stärken sprechen, gegenseitige Attacken sind tabu. So wollen SP und Grüne gemeinsam wachsen.
Nachdem der Frauenanteil unter der Bundeshauskuppel lange stagnierte, schnellte er 2019 richtiggehend in die Höhe. Auch dank des Frauenstreiks und der Kampagne «Helvetia ruft» schafften es viele Frauen ins Parlament. Im Nationalrat stieg ihr Anteil von 32 auf fast 42 Prozent. Im Ständerat ist seither gut ein Viertel weiblich. Das wirkt sich zum Teil auf die Entscheide aus: Gemäss einer RTS-Auswertung stimmten die Frauen in rund zehn Prozent der Abstimmungen anders als die Männer – und kippten dadurch das Resultat.
So geschehen etwa beim Zivildienstgesetz oder bei einzelnen Entscheiden zum CO2-Gesetz. Auch bei gesellschaftsliberalen Themen wie der Ehe für alle zeigen sich bürgerliche Frauen in der Tendenz progressiver als männliche Parteikollegen. Einen deutlichen Akzent zu Gunsten der Gleichstellung setzte das Parlament zudem bei der Legislaturplanung: Es verlangt zusätzlich eine Strategie zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine Botschaft zur Individualbesteuerung.
Manche Parlamentarier sagen, der höhere Frauenanteil habe auch die Gesprächskultur verbessert, etwa in den Kommissionen. Im Ständerat allerdings, seit Jahrzehnten dominiert von älteren Männern, kam es zu Spannungen zwischen jüngeren, linken Frauen und etablierten Ständeräten. Seit kurzem haben die Parlamentarierinnen im Übrigen eine eigene Fussballmannschaft, den FC Helvetia. Fast 50 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts fiel auch diese Männerbastion.
Für hiesige Politverhältnisse war der Umbruch fast spektakulär: Die Schweiz wählte 2019 ein so junges Parlament wie nie zuvor. 36 der Neugewählten waren zwischen 30 und 39 Jahren alt, sieben sogar jünger als 30 Jahre. Von einem «demografischen Umbruch» war gar die Rede (wobei das Durchschnittsalter selbst im jüngeren Nationalrat noch 49 Jahre beträgt). Und bald gab es sogar eine knackige Chiffre für die Jugendfrische: «Polit-WG». Die Jungnationalräte Andri Silberschmidt (26, FDP), Franziska Ryser (29, Grüne) und Mike Egger (28, SVP) gründeten eine überparteiliche Wohngemeinschaft in Bern.
Inhaltlich freilich ziehen die jungen Parlamentarier meist am gleichen Strick wie ihre Fraktionen; ideologische Überzeugungen trennen mehr als dass das Alter verbindet. Doch hie und da formieren sie sich zu einer Art «Korrektiv der Jungen», allen voran bei Themen der Digitalisierung und der gesellschaftlichen Liberalisierung.
Gemeinsam kämpften Jungparlamentarier von links bis weit in die Mitte auch gegen höhere Hürden für den Zivildienst. Man dürfe den Zivildienst keinesfalls übereilt gegen das Militär ausspielen, warnte etwa Simon Stadler (32, CVP). Das Parlament hatte sich zuerst konsequent hinter Verschärfungen gestellt. In der Schlussabstimmung lehnte der Nationalrat das Gesetz dann jedoch überraschend ab. Namentlich Vertreter der Mitteparteien liessen sich von den Argumenten der Jungen überzeugen und änderten ihre Haltung.
In der Legislatur 2015 bis 2019 hatten SVP und FDP eine Mehrheit im Nationalrat. Der Ständerat indes galt als fortschrittlicher, als lösungsorientierter. Dort wurden etwa die Kompromisse geschmiedet zur Umsetzung der Zuwanderungsinitiative der SVP oder der AHV-Steuervorlage. Gewisse Ständeräte galten als Schattenbundesräte. Seit den Wahlen haben National- und Ständerat ihre Rollen getauscht.
Die Kantonsvertreter gelten plötzlich als konservative Bremser. So setzten sie bei der Konzernverantwortungsinitiative einen weniger weitgehenden Gegenvorschlag durch, als ihn der Nationalrat wollte. Die Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose schränkten sie ein und bei Massnahmen zur Dämpfung der Folgen der Coronapandemie zeigten sich die Ständeräte weniger grosszügig als ihre Kollegen in der grossen Kammer.
Erstaunlich ist dies insofern, weil sich die Mehrheitsverhältnisse gegenüber der letzten Legislatur nicht stark verändert haben. Es sind einzelne Personen, die den Unterschied ausmachen. Eine Schlüsselrolle kommt immer noch der CVP zu. Dort gibt inzwischen der konservative Walliser Beat Rieder den Ton an; in der letzten Legislatur waren es moderate Brückenbauer wie Konrad Graber oder Filippo Lombardi. Die CVP ist neuerdings Mehrheitsmacherin in Stände- und Nationalrat. Nur: Diese Position konnte sie bislang nicht nutzen. Zu gross sind die Unterschiede zwischen ihrer Deputationen in den beiden Kammern.
Die einen brauchen eine DV um Erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Andere schaffen es über Jahrzehnte nicht.