Es handelt sich wohl um die weitreichendste derartige Massnahme, die in der Schweiz bisher angewandt wurde: Zehntausende, vielleicht auch hunderttausende unbescholtene Bürger gerieten letztes Jahr ins Visier der Waadtländer Staatsanwaltschaft. Wenn sie zur falschen Zeit in einem bestimmten Gebiet waren, wurde ihre Anwesenheit registriert und aufgezeichnet, an wen sie SMS schrieben und mit wem sie telefonierten.
Der Grund für die Überwachung der eigenen Bevölkerung: Die Strafverfolger suchen die Täter einer Serie von Überfällen auf Geldtransporter, die in der Westschweiz für Empörung sorgten. Mit Kalaschnikows und Sprengstoff raubten die Kriminellen jeweils nachts die wertvolle Fracht aus sechs Geldtransportern. Sie erbeuteten Millionen.
Wie nun bekannt wird, nutzten die Waadtländer Staatsanwälte in ihrer Untersuchung ein umstrittenes Mittel in einem Mass, wie man es in der Schweiz davor nicht gekannt hat. Den sogenannten Antennensuchlauf. Die Behörden erfahren damit, welche Handys in einem bestimmten Zeitraum an einer bestimmten Antenne eingewählt waren. Sie sehen, mit wem diese Menschen telefoniert oder SMS geschrieben haben. Und wer sich wo genau für wie lange befand.
Die Überwachung ist eigentlich geheim. Den Schleier lüftet jetzt aber ausgerechnet eine offizielle Bundesstatistik. Darin ist ausgewiesen, dass der Kanton Waadt letztes Jahr 981 Antennen ausgewertet hat. Das ist eine extrem hohe Zahl – die Waadt hat damit gleich viele Überwachungen durchgeführt wie der ganze Rest der Schweiz zusammengerechnet.
Die Staatsanwaltschaft sagt auf Anfrage, die Überwachung der fast tausend Antennen gehe auf «maximal zehn schwere Vorfälle» zurück und verweist auf die Geldtransporter-Überfälle.
Der Anwalt Martin Steiger ist Sprecher der Digitalen Gesellschaft, die sich schon lange gegen die Überwachungsmethode Antennensuchlauf einsetzt. «Es handelt sich um eine Form der Massenüberwachung, die unbescholtene Menschen ohne Anlass und ohne Verdacht betrifft», sagt der Jurist.
Die hohe Zahl analysierter Antennen bei wenigen Vorfällen kann zwei Dinge bedeuten: Entweder hat die Staatsanwaltschaft eine grosse Fläche ausgewertet – oder sie hat die Antennen an bestimmten Orten, zum Beispiel entlang der Autobahn, für längere Zeit überwacht. Denn Überwachungen gehen immer in Zwei-Stunden-Blöcken in die Statistik ein. «Wenn man wie offenbar in diesem Fall entlang von Verkehrswegen überwacht, sind potenziell Hunderttausende betroffen. Das ist aus unserer Sicht nicht verhältnismässig», sagt Anwalt Martin Steiger.
Das exzessive Einsetzen im Rahmen der Überfall-Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft Waadt ist eine Abkehr von der üblichen Praxis, also der gezielten Abfrage eines kleinen Gebietes zum Zeitpunkt eines Verbrechens.
Die Hürden für die Ausweitung der Überwachung waren minimal. Klar ist, dass ein Richter im Kanton Waadt die Überwachung erlaubt hat. Eine Bewilligung durch ein Zwangsmassnahmengericht ist gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings sind die Entscheide geheim. Damit bleibt auch unter Verschluss, wie ausgeprägt die Abwägung zwischen dem Eingriff in die Privatsphäre von Tausenden Bürgern und dem Ermittlungserfolg war.
Für die Digitale Gesellschaft liegt ein Problem in der fehlenden Transparenz. «All die Menschen, die in diese Rasterfahndung hineingeraten, werden davon nie etwas erfahren. Alles wird in einen Mantel des Schweigens gehüllt», sagt Steiger. Er fordert: «Jeder, der betroffen ist, sollte per SMS informiert werden, damit er sich wenn nötig zur Wehr setzen kann.»
Noch vor ein paar Jahren setzten Staatsanwälte Antennensuchläufe nur mit grosser Zurückhaltung ein. 2014 wurden etwas über 100 Funkzellen ausgewertet. Letztes Jahr waren es über 1700. Für Steiger war die Entwicklung vorprogrammiert: «Die Sicherheitsbehörden kommen bei jeder neuen Überwachungsmethode auf den Geschmack. Egal, ob sie eigentlich als Ultima Ratio gedacht war.»
Die These scheint sich zu bestätigen: Der Kanton Aargau, der nicht übermässig viel Straftaten aufweist, steht mit 310 Suchläufen an zweiter Stelle – der Kanton hatte Antennensuchläufe vor einigen Jahren national bekannt gemacht, als die Methode die Verhaftung des Vierfachmörders von Rupperswil ermöglichte.
Im Fall der Geldtransporter haben die Antennensuchläufe der Waadt fast eine Viertelmillion Franken an Gebühren gekostet. Ob der Aufwand Hinweise auf die Täter gebracht hat, sagt die Waadtländer Staatsanwaltschaft mit Verweis auf das Untersuchungsgeheimnis nicht.
Die Forderung Steigers gefällt mir aber:
nach Abschluss der Fahndung sollten alle betroffenen Informiert werden. So kann der Entscheid nachträglich vors Bundesverwaltungsgericht gebracht und durch eine weitere Instanz geprüft werden, um Missbrauch zu erkennen. Allenfalls kann dann auch auf Gesetzesebene enger definiert werden, wann solche Methoden verhältnismässig sind.
Bitte das Ganze deshalb etwas weniger reisserisch aufziehen.