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Zwangsehe in der Schweiz: Immer mehr minderjährige Opfer

In die Ehe gezwungen – immer mehr Minderjährige betroffen

Bei der Fachstelle Zwangsheirat melden sich mehr minderjährige Opfer – obwohl das Gesetz verschärft wurde.
27.01.2020, 04:57
Maja Briner / Aargauer Zeitung
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Sie werden gezwungen, jemanden zu heiraten, den sie nicht wollen. Das geschieht auch in der Schweiz – und zwar hundertfach. Die Fachstelle Zwangsheirat, Kompetenzzentrum des Bundes in dieser Frage, hat im vergangenen Jahr in 347 Fällen Betroffene beraten und begleitet. Die Zahlen seien damit auf ähnlich hohem Niveau wie im Vorjahr, sagt die Präsidentin der Fachstelle, Anu Sivaganesan. Vor einigen Jahren war die Anzahl noch deutlich tiefer: 2015 etwa waren es rund 100 Fälle weniger. Der Anstieg habe zwei Gründe, heisst es bei der Fachstelle. «Viele Betroffene getrauen sich inzwischen, externe Hilfe zu suchen, nachdem sie von Vertrauenspersonen ermutigt worden sind», sagt Sivaganesan. Sie geht aber auch davon aus, dass tatsächlich mehr Frauen und Männer zur Ehe gezwungen werden.

After their church wedding, Urs and Viviane I. share a dance at restaurant "Roessli" in Tufertschwil in the canton of St. Gallen, Switzerland, pictured on August 22, 2009. (KEYSTONE/Gaetan B ...
Es sollte der schönste Tag im Leben sein – doch für manche ist es der schlimmste. (Symbolbild)Bild: KEYSTONE

Vermehrt hat es die Fachstelle auch mit Kindern zu tun. «Seit 2016 haben wir viel mehr Fälle von Minderjährigen- Ehen», sagt Sivaganesan. Allein vergangenes Jahr hat die Fachstelle 123 Minderjährige beraten. Die Politik hat das Problem schon länger auf dem Radar – und das Gesetz verschärft: Früher durften Ausländer in der Schweiz bereits ab 16 Jahren heiraten, wenn ihr Heimatland dies erlaubte. Heute ist das verboten; das Problem jedoch nicht gelöst. Sivaganesan sagt: «In der Praxis sehen wir Ausweichmanöver, wie häufig bei Gesetzesrevisionen. Die Betroffenen werden nun im Ausland verheiratet – und die Schweiz anerkennt die Ehe danach meist an.»

Gesamtschweizerische Zahlen gibt es dazu nicht. Bekannt ist, dass im Kanton Zürich von 2015 bis 2017 281 Minderjährigen-Ehen offiziell anerkannt wurden. Ein Teil betrifft ältere Personen: etwa eine Portugiesin, die mit 16 Jahren heiratete – und sich mit 42 die Ehe anerkennen liess. Es gibt aber auch Fälle wie jenen einer Syrerin, die erst 17 war, als ihre Ehe in der Schweiz anerkannt wurde. Wie häufig Zwang im Spiel war, ist offen.

«Das ist ein Papiertiger»

Für die Behörden sei es generell schwierig, im Ausland geschlossene Zwangsehen aufzudecken, sagt Arnold Messerli. Er ist Jurist bei der Berner Aufsichtsbehörde. Das Anerkennungsverfahren laufe normalerweise schriftlich ab, erklärt er. Handeln könne die Behörde nur, wenn sich einer der Ehegatten oder beide der Eintragung widersetzen. «Dies ist nach unseren Erfahrungen nur sehr selten der Fall», sagt Messerli.

Nicht alle Minderjährigenehen geschehen aus Zwang, die Gefahr ist bei dieser Altersgruppe aber besonders hoch. Der Bund hat daher versucht, sie speziell zu schützen: Laut Gesetz ist die Ehe nur dann gültig, wenn sie «den überwiegenden Interessen» des minderjährigen Ehegatten entspricht.

Nur: Laut Anu Sivaganesan findet diese Interessensabwägung nicht statt. «Das ist ein Papiertiger», sagt die Präsidentin der Fachstelle.

Das Problem liege im Verfahren – und hier wird es kompliziert: Nur ein Gericht kann die Ehe für ungültig erklären. Sind beide Eheleute mindestens 16-jährig, anerkennen die Zivilstandsbehörden ausländische Ehen in der Regel an. Erst anschliessend kann ein Gericht entscheiden, ob dies im Interesse der Minderjährigen ist. Bis das geschieht, sind die Betroffenen laut Sivaganesan aber meist volljährig – und die Ehe kann nicht mehr wegen Minderjährigkeit annulliert werden.

Das bestätigt Arnold Messerli. Er sagt, seine Behörde habe «zahlreiche Strafanzeigen und Anträge auf Ungültigerklärung der Minderjährigenehe» an die Staatsanwaltschaften und die zuständigen Behörden eingereicht. «Diese traten jedoch in keinem einzigen Fall auf unsere Anzeigen ein.» Vielfach sei als Grund die bevorstehende Volljährigkeit geltend gemacht worden.

Bundesrat untersucht Bilanz

Die Fachstelle Zwangsheirat fordert deshalb, dass Minderjährigenheiraten ab 18 Jahren nicht automatisch in der Schweiz als «geheilt» gelten. Auch Volljährige sollen also ihre Ehe annullieren können, wenn sie einst minderjährig geheiratet haben. Die Fachstelle will zudem, dass Minderjährigen-Ehen generell nicht anerkannt werden. Diese Forderung hat auch die Politik aufgenommen – im Nationalrat ist ein Vorstoss hängig. Der Bundesrat stellte sich bisher dagegen. Er muss sich demnächst wieder mit dem Thema befassen: In einem Bericht muss er Bilanz ziehen über die Gesetzesverschärfungen von 2013. Der Bericht soll in den nächsten Wochen verabschiedet werden, wie es beim Bundesamt für Justiz heisst.

Eine Bilanz sieht düster aus: Seit 2013 gab es in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik nur vier Verurteilungen wegen Zwangsheirat; gut zwei Dutzend Straftaten wurden angezeigt. Die meisten Täter kommen also straffrei davon. «Es braucht Zeit, bis das Gesetz greift», sagt Sivaganesan. Betroffene wollten oft nicht aussagen, weil sie etwa befürchten, dann die ganze Verwandtschaft gegen sich zu haben. «Und schliesslich gibt es auch keine Sicherheit, dass sie einen Gerichtsfall gewinnen werden», sagt sie. Denn die Beweislage sei schwierig.

Immerhin: Die Betroffenen erhalten eher Hilfe als früher. «In vielen Situationen können wir zusammen mit den Behörden eine Lösung finden», sagt Sivaganesan. 2018 seien bei der Fachstelle 88 Prozent der Beratungen erfolgreich gewesen. (aargauerzeitung.ch)

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Bis zu 340 Fälle pro Jahr: Zwangsheirat in den Sommerferien
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58 Kommentare
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Toerpe Zwerg
27.01.2020 06:18registriert Februar 2014
Wieso werden ausländische Minderjährigenehen überhaupt anerkannt?

Btw. Das "Symbolbild" ist nichtssagend gewählt. Dann lieber kein Bild.
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Monika Schenk
27.01.2020 08:00registriert Juni 2019
Schwule dürfen nicht heiraten aber Zwangsehe erklärt man als gültig... unglaublich und wir sagen wir leben nicht im Mittelalter! stimmt wir leben in der Steinzeit..
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Name_nicht_relevant
27.01.2020 06:22registriert Mai 2019
Ich habe schon mehrere Bücher über Lebensgeschichten gelesen wo Frauen im Aulsand verheiratet wurden und nicht mehr dort weg konnten, viele werden Schwanger und sind ab dann Gefangen in dieser Ehe der Kinder wegen. Wiederum kenne ich alte Geschichten aus dem Kosovo, wo viele Frauen Freiwillig zu Jung hairateten und der Kinder wegen sich nicht mehr trennten, da die Kinder nach der Scheidung beim Vater bleiben. In vielen Ländern ist die so, hier umgekehrt. Meine Mutter erklährte mir das es vorallem um das Geld gienge und die neuen Männer Kinder aus 1. Ehe nicht annehmen. Heute ist es anders dort
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