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Wie die Berner schon vor 40 Jahren den Bau des AKW Graben verhinderten

Atomkraftwerkgegner protestieren gegen den Bau des Kernkraftwerks Graben im Kanton Bern am 21. Maerz 1981. (KEYSTONE/Str)
Bild: KEYSTONE

Wie rebellische Berner schon vor 40 Jahren ein Atomkraftwerk loswurden

Die Berner sind nicht nur die Ersten, die ein Atomkraftwerk abschalten. Vor 40 Jahren haben sie auch das Atomkraftwerk Graben verhindert. Im Rückblick liest sich dieser erfolgreiche Aufstand gegen die «Atom-Lobby» und das Feilschen um Schadenersatzforderungen spannend wie ein Krimi.
21.12.2019, 20:05
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Alles beginnt ganz harmlos – wie der Flügelschlag des Schmetterlings, der schliesslich den Wirbelsturm auslöst. Vor bald 40 Jahren, am 14. Dezember 1979, bewilligen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von Graben (BE) in geheimer Abstimmung mit 43 zu 40 Stimmen eine Umzonung, die mehr zu reden geben wird als jede andere Umzonung im Bernbiet: Sie macht den Bau eines Atomkraftwerkes möglich.

Doch soweit sollte es nie kommen. Als die Pläne für den Bau eines Atomkraftwerkes in Graben aktuell werden, ist der Widerstand vor allem von der Gewaltfreien Aktion Graben GAG geprägt. Die GAG hat zeitweise über 1500 Mitglieder und versorgt weitere 2000 Sympathisanten mit Informationen.

Die Geschichte des Nicht-Baus wird ziemlich genau 30 Jahre dauern: Von 1966, den ersten Landkäufen der BKW in Graben, bis 1996, als der Bund der Kernkraftwerk Graben AG genau 227'034'245 Franken als Entschädigung bezahlt, weil die 1979 beantragte Rahmenbewilligung nie erteilt, die Bewilligung also faktisch verweigert worden ist. Ursprünglich (1990) hatte die Kernkraftwerk Graben AG 300 Millionen gefordert, die Hälfte ihrer Investitionen von 600 Millionen Franken.Doch zeichnen wir diese Geschichte noch einmal von Anfang an nach.

1966 macht die Bernische Kraftwerke AG (BKW) den ersten Schritt: sie kauft Liegenschaften und Landparzellen in der Gemeinde Graben, in einem Dorf im bernischen Oberaargau mit heute 332 Einwohnern in der Grossregion Langenthal.

Im Laufe der Jahre kauft die BKW ein Achtel des kleinen Gemeindegebietes und 1990 sollte jede siebte Familie in einer BKW-Liegenschaft wohnen. 1970 reicht die BKW ein Gesuch für eine Standortbewilligung für ein AKW in Graben ein. 1971 deponiert der Naturschutzverein Oberaargau Einsprache gegen die Kühlwasserentnahme aus der Aare. Die Einsprache wird abgewiesen.

Es hagelt Einsprachen

Am 31. Oktober 1972 erteilt der Bund die Standortbewilligung für Graben, gemeinsam mit Gösgen. Diese Bewilligung umfasst den Bau eines Kernkraftwerks in Graben mit zwei Kühltürmen (also zwei Reaktoren) à 880 Megawatt Leistung. Die Masse des ersten Kühlturms ist gigantisch. Basisdurchmesser: 120 Meter, Höhe: 140 Meter, Bausumme: 2 Milliarden Franken. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt alles ruhig.

Erst 1972 macht sich breiter Widerstand bemerkbar. Die vom Oberaargauer Naturschutzverein lancierte Petition gegen das AKW wird von rund 12'000 Personen aus der Region unterschrieben. Am 19. November 1973 segnet der Gemeinderat Graben das generelle Baugesuch für das «Erstellen eines Kernkraftwerkes» trotzdem ab. Der Kanton hat die Einsprache-Möglichkeit stark eingeschränkt, das Bewilligungsverfahren läuft auf Bundesebene. Das bedeutet: Wo der Bund die Standortbewilligung erteilt hat (wie in Graben), bleibt kein Raum für die Anwendung kantonaler Bauvorschriften.

Trotzdem hagelt es bis zum Ablauf der Einsprachefrist (24. Dezember 1973) Hunderte von Einsprachen. Nach den Einigungsverhandlungen zwischen Einsprechern und Bauherrschaft blieben 116 Einsprachen, 307 Rechtsverwahrungen und 227 Anmeldungen von Lastenausgleichsbegehren. Die sind im Dezember 1974 vom Tisch: der Regierungsstatthalter erteilt die generelle Baubewilligung.

Anfang 1975 erhalten alle Einsprecher eine Antwort des Regierungsstatthalteramtes, in dem alle Bedenken, die sich auf die Sicherheit und die gesundheitlichen Risiken bezogen, mit einem einzigen Satz abgetan werden: «Die Radioaktivität ist Sache des Bundesrates.»

Eine Demonstration der Atomkraftwerkgegner in Bern am 27. August 1977. (KEYSTONE/Str)
Eine Demonstration der Atomkraftwerkgegner in Bern am 27. August 1977.Bild: KEYSTONE

Noch gibt es keinen organisierten Widerstand auf breiter Ebene. Das Jahr 1974 ist geprägt durch die Ölkrise. Im Herbst gilt an drei Sonntagen ein Autofahrverbot. Im gleichen Jahr schliessen sich 18 Gemeinden der Region Graben zu einer Interessengemeinschaft zusammen. Ihr Ziel ist nicht Widerstand gegen ein AKW Graben. Es geht ums Geld. Wenn sie schon die Nachteile eines Kernkraftwerks in Kauf nehmen, dann soll als Gegenleistung ordentlich Geld dafür fliessen.

Aber ab 1975 nimmt der Widerstand gegen Atomkraftwerke im Land ungeahnte Ausmasse an. Von April bis Juni wird das Baugelände von Kaiseraugst besetzt. Das hat Signalwirkung. 1975 organisieren sich auch die Gegner im Oberaargau besser. Sie gründen am 18. April 1975 mit rund zwanzig Personen wenige Tage nach Beginn der Besetzung in Kaiseraugst die Gewaltfreie Aktion Graben Aktion Graben (GAG).

Am 26. August 1975 wird in Solothurn die «Überparteiliche Bewegung gegen Atomkraftwerke» gegründet, die den Stopp der 1973 begonnenen Bauarbeiten für das AKW Gösgen und den Planungsstopp für das AKW Graben fordert.

Die Behörden der Standortgemeinde Graben reiben sich hingegen erst einmal die Hände: die Bernische Kraftwerke AG hat sich nämlich am 22. September 1975 vertraglich verpflichtet, acht Strassenstücke auszubauen sowie fürs Schulhaus und fürs Gemeindehaus gratis Strom und Wasser zu liefern. Für die Feuerwehr wird ebenfalls Gratiswasser zugesichert und für die Strassenbeleuchtung Gratisstrom. Zudem werden die Kosten für die Ortsplanung bezahlt.

Der Vertrag enthält auch eine Abmachung, die bei den AKW-Gegnern viel zu reden gab: «BKW und Gemeinde Graben halten sich über die Wohnraumbelegung gegenseitig auf dem laufenden.» Die Vermutung der Gegner: Die BKW will darüber informiert werden, ob AKW-Gegner in die kleine Gemeinde ziehen – Gegner, die dann an den Gemeindeversammlungen, wenn es um Bewilligungen geht, etwas zu sagen haben.

Graben wird Sache des Bundesrates

Das Projekt Graben gibt 1975 nun auch in Bern zu reden: die Poch scheitert im Berner Grossen Rat am 3. November 1975 mit einer Motion für Planungstopp des AKW Graben. Am 24. November 1975 empfängt der Regierungsrat eine Delegation der Gewaltfreien Aktion Graben und des Naturschutzvereins Oberaargau (NVO) zum Gespräch. An der Situation ändert sich allerdings vorerst nichts und es geht weiterhin zügig voran.

22. Dezember 1975 werden weitere Nägel mit Köpfen gemacht. Die Betreibergesellschaft «Kernkraftwerk Graben AG» wird mit einem Aktienkapital von 100 Millionen Franken gegründet, Hauptaktionärin ist die BKW. Im Februar 1976 beschliesst der Grosse Rat, dass nach dem Bau des AKWs Graben insgesamt 18 Gemeinden vom Steuersegen profitieren dürfen. Es geht um die Verteilung von rund 5 Millionen zu erwartenden jährlichen Steuerfranken, die gleichmässig verteilt werden sollen.

Noch ahnt niemand, welcher Sturm bald heraufziehen wird. Es gibt zwar erste leise Zweifel. Bundesrat Willi Ritschard sagt am 7. Februar 1976 auf Radio DRS, er sei nicht davon überzeugt, dass das AKW Graben auf «heute absehbare Zeit» gebaut werden müsse. Aber am 21. Juni 1976 rudert der Bundesrat zurück und antwortet auf eine entsprechende «Einfache Anfrage» aus dem Parlament, die Gesamtenergiekonzeption halte ein weiteres Kernkraftwerk auf Mitte der achtziger Jahre für nötig, wobei das Projekt Graben im Vordergrund stehe.

Also geht die Planung unverdrossen weiter. Am 1. November 1976 erteilt der Regierungsstatthalter des Amtes Wangen die Kantonale Baubewilligung für das Kernkraftwerk Graben. Und der Grosse Rat gewährt die Konzession für die Kühlwasserentnahme aus der Aare.

Nun wird klar: Die Gegner müssen mobil machen, wenn Graben verhindert werden soll. Mit dem Graben-Fest 1977 zeigen sie, wie viele Leute sie zu mobilisieren vermögen und dass das Wort «gewaltfrei» für sie keine blosse Floskel ist. Politiker und Musiker kommen, das Plakat und Festsignet kreiert der bekannte Grafiker Celestino Piatti. Der 2007 verstorbene Tessiner ist ein Titan seiner Zunft. Er hat über 6300 Buchumschläge entworfen und die Gesamtauflage der von ihm gestalteten oder illustrierten Bücher liegt bei über 200 Millionen.

Atomkraftwerkgegner protestieren gegen den Bau des Kernkraftwerks Graben im Kanton Bern am 21. Maerz 1981. (KEYSTONE/Str)
Ernst Born spielt und singt beim Graben-Fest der Atomkraftwerkgegner neben dem Baugelaende des geplanten AKWs Graben im Kanton Bern am 27. August 1977.Bild: KEYSTONE

Für das Ende August 1977 geplante Fest wird eigens der «Verein Graben Fest» gegründet. Im Vorfeld rockt es. Es wird das Schlimmste befürchtet. Kein Wunder: an zwei «Aktionswochenenden» gegen das AKW Gösgen kommt es Ende Juni, Anfang Juli zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen mehreren Tausend Demonstranten und einer schlagkräftigen interkantonalen Polizeitrupp.

Landbesitzer und Behörden rund um Graben sind gegen das Fest. Doch es findet statt und wird zu einer eindrücklichen Demonstration des gewaltlosen Widerstandes, an der Mahatma Gandhi seine Freude gehabt hätte. Es dauerte drei Tage, von Freitag, 26. August 1977, bis Sonntag, 28. August 1977. Das Festzelt bietet Platz für 3000 Personen, es kommen rund 10 000 nach Graben und trotz Dauerregen schlafen gut und gerne 1000 Besucher im Zelten. Fast wie bei Woodstock.

Die helvetischen Popgrössen der Zeit treten auf und Tinu Heiniger komponiert eigens ein «Graben-Lied» Zum Tanz spielen die «Eldorados» auf. Es referieren unter anderem Samuel Bhend (damals SP-Grossrat, später Regierungsrat), Paul Günter (damals LdU-Grossrat, später SP-Nationalrat) und Franz Weber (Umweltschützer). Pfarrer Zürcher aus Bannwil gestaltete den Gottesdienst am Sonntagvormittag. Es kommt zu keinerlei Zwischenfällen und gerade wegen der Friedfertigkeit beim Graben-Fest kippt die Stimmung allmählich. Trotz ein paar Zwischenfällen (unter anderem wird auf dem Gelände später ein Mast gefällt) bleibt der Eindruck eines friedlichen Protestes,

Der Widerstand weitet sich auf die ganze Schweiz aus

Noch deutete allerdings nichts darauf hin, dass auf den Bau eines AKWs in Graben verzichtet wird. Aber 1979 wird die Diskussion um die Sicherheit von Atomkraftwerken durch einen Unfall in den USA angeheizt: Am 28. März 1979 ereignete sich im Kernkraftwerk Three Mile Island in der Nähe von Harrisburg (Pennsylvania) ein gravierender Störfall. Darauf verspricht Bundesrat Willi Ritschard am 8. Mai 1979 in einem Vortrag in Langenthal, dass die Standortbewilligung für das Kernkraftwerk Graben «von Grund auf überprüft» werde. Aber am 14. Dezember 1979 bewilligt die Gemeindeversammlung von Graben trotzdem – wie eingangs erwähnt - die für den Bau notwendige Zonenplan-Änderung mit 43:40 Stimmen. Das ist sozusagen der «Startschuss» zur Realisierung. Ein «Nein» hätte die Pläne vorerst gestoppt.

Am 12. Februar 1980 beginnt die dreimonatige Einsprachefrist gegen das Rahmenbewilligungsgesuch. Zu den Gesuchsunterlagen gehört auch ein 2000 Seiten dicker Sicherheitsbericht zum AKW Graben – allerdings schlauerweise in englischer Sprache, der sicherlich viele Gegner nicht mächtig sind.

Doch die Gegner machen nun in der ganzen Schweiz mobil und vereinfachen Einsprachen mit einem Musterbrief. Bei den Einsprachen wird moniert, das Unfall- und Schadensrisiko sei zu gross, es bestehe kein Bedarf für ein weiteres AKW in Graben und das Atommüllproblem sei nach wie vor ungelöst

Die konkreten Sorgen der Bürgerinnen und Bürger, die in den Einsprachen vorgebracht werden, sind mannigfaltig. Ein Landwirt aus Schwarzhäusern befürchtet Auswirkungen des Kühlturmes auf den Ertrag seiner Felder. Eine Hausfrau in Bannwil hat von einer Bekannten aus Aarau erfahren, dass dort die Wäsche wegen der Dampffahne von Gösgen nicht mehr trocken werde. Eine Familie aus Aarwangen hat ein Einfamilienhaus erworben und fürchtet wegen der ständigen Feuchtigkeit durch die Dampffahne Schäden an ihrer Hausfassade und Wertverminderung von Land und Haus. Ein Vertreter aus Bützberg ist viel unterwegs und befürchtet, dass er im Falle einer ernsthaften Panne in Graben wegen der Absperrungen nicht mehr zu seiner Familie zurückkehren kann. Ein Fischer gibt zu bedenken, dass radioaktives Wasser in die Aare gelangen und die Dosis durch die Nahrungskette schliesslich so gross werden könnte, dass der Mensch gefährdet wird.

Bundesbern ertrinkt in einer Einspracheflut. Am 28. Mai 1980 meldet das Bundesamt für Energiewirtschaft den Eingang von rund 24 500 Einsprachen. Auch 37 Berner Gemeinden haben Einsprache erhoben. Für die AKW-Planer und die AKW-Gegner beginnt nun das grosse Warten.

Die BKW verbreitet bei ihrer Generalversammlung am 13. Juni 1980 unverdrossen Zuversicht. Das Kernkraftwerk Graben sei neben demjenigen von Kaiseraugst für eine sichere und genügende Strom-versorgung der Schweiz nötig.

Am 23. Oktober 1980 veröffentlicht das Eidgenössische Verkehrs- und Energiedepartement das Ergebnis der Vernehmlassung zum AKW Graben: 17 Kantone sprechen sich für die Rahmenbewilligung aus, drei dagegen (Basel-Stadt, Basel-Land, Jura) und sechs enthalten sich einer Meinung (Schwyz, Schaffhausen, Tessin, Waadt, Neuenburg, Appenzell-Innerrhoden).

Am 21. März 1981 eröffnen die AKW-Gegner eine neue Front. Sie machen darauf aufmerksam, dass die Zufahrtstrassen zum AKW-Gelände «bald fertig» und für das noch nicht bewilligte AKW bereits über 300 Millionen Franken investiert worden seien. Das nationale Interesse konzentrierte sich in den nächsten Jahren allerdings auf die Auseinandersetzungen um das geplanten AKW Kaiseraugst. Es zeichnete sich ab, dass Kaiseraugst aufgrund der grossen Gegnerschaft nicht gebaut werden kann. Der Bau des AKW Graben ist erst nach Kaiseraugst geplant. Deshalb macht sich die Angst breit, Graben könnte Kaiseraugst vorgezogen werden. Deshalb stellt die eigentlich AKW-Graben-freundliche Regierung des Kantons Solothurn am 30. Juni 1980 klar, sie werde sich «entschieden dagegen wehren», dass Graben anstelle von Kaiseraugst gebaut werde.

Am 19. September 1981 fordert die Gewaltfreie Aktion Graben, man solle «dem sich abzeichnenden Kuhhandel Graben statt Kaiseraugst» entgegentreten. Am 25. September 1981 drohen 16 Nationalräte und Grossräte aus der Region in einer Resolution, dass mit entschiedenem Widerstand gegen das Kernkraftwerk Graben zu rechnen sei, wenn der Bundesrat die Rahmenbewilligung für das AKW Graben statt Kaiseraugst erteile. Und am 1. Oktober 1981 schriebt die FDP des Kantons Bern (im Namen von 90 bürgerlichen Politikern) an den Bundesrat: «Wir sind nicht bereit, einem politischen Handel zuzustimmen, in welchem Kaiseraugst durch Graben ersetzt würde.»

Atomkraftwerkgegner protestieren gegen den Bau des Kernkraftwerks Graben im Kanton Bern am 21. Maerz 1981. (KEYSTONE/Str)
Atomkrafwerkgegner protestieren 1981 gegen den Bau des AKWs Graben im Kanton Bern. Bild: KEYSTONE

Derweil wird munter weiter in die beiden Projekte investiert. Im April 1983 machen verschiedene Zeitungen publik (das Internet gibt es ja noch nicht), dass für die projektierten Kernkraftwerke Kaiseraugst und Graben bis Ende 1982 bereits 1,2 Milliarden Franken ausgegeben worden sind. 843 Millionen für Kaiseraugst, 413 Millionen Franken für Graben. An der Bilanz-Pressekonferenz gibt die BKW zu man habe gar schon 465 Millionen für Graben ausgegeben.

Das Stimmvolk steht allerdings schweizweit nach wie vor hinter der Atomenergie: Die zweite eidgenössische Atominitiative («Für die Zukunft ohne weitere Atomkraftwerke») wird im Verhältnis 55:45 abgelehnt. Aber im Oberaargau wird unverdrossen gegen das AKW Graben gekämpft. Doch die BKW betont an ihrer Generalversammlung am 21. Juli 1985 einmal mehr, an Graben festzuhalten und führt ein neues Argument ins Feld: den Umweltschutz. Der Umwelt zuliebe müsse Erdöl durch Elektrizität ersetzt werden und deshalb könnte nicht auf Graben verzichtet werden.

Doch dann die unverhofft die Wende. Das Ende für Graben kommt aus der ehemaligen Sowjetunion. Am 26. April 1986 beginnt mit der Katastrophe von Tschernobyl für die Schweizer Atomkraftwerke eine neue Zeitrechnung. Nun ist an den Bau von neuen Kraftwerken eigentlich nicht mehr zu denken. Der Berner Regierungsrat verspricht am 4. Oktober 1986, dass er sich für den Verzicht von Graben einsetzen werde. Am 18. November 1986 doppelte der Grosse Rat nach. Unter Namensaufruf wird eine Motion mit 114 zu 67 Stimmen überwiesen, die verlangt, «dass das Kernkraftwerk Graben nicht gebaut werden soll und auch sonst keine Kernkraftwerke auf dem Boden des Kantons Bern».

Tschernobyl ist der Anfang vom Ende für Graben und Kaiseraugst. Von nun an geht es bei den Projekten Graben und Kaiseraugst eigentlich nur noch um Schadensbegrenzung. Die drei bürgerlichen Bundesratsparteien unter der Führung von SVP-Nationalrat Christoph Blocher verlangen am 2. März 1988 den Verzicht auf Kaiseraugst samt angemessener Entschädigung. Die Linken wollen nicht zurückstehen und die SP-Fraktion folgt am 16. März 1988 mit der Aufforderung an den Bundesrat, «möglichst rasch den Verzicht auf das AKW Graben festzuschreiben».

Offen bleiben nur die Rechnungen

Am 1. Juni 1988 ist klar, dass in Graben kein Atomkraftwerk gebaut wird. Denn am 1. Juni 1988 erklärte sich der BKW-Verwaltungsrat an der Bilanzpressekonferenz bereit, Verhandlungen über einen Verzicht auf das Projekt Graben zu führen. Am 17. November 1988 treffen sich Vertreter der Kernkraftwerk Graben AG und des Bundesrates zu ersten Gesprächen «über die Modalitäten eines allfälligen Verzichtes auf das projektierte Kernkraftwerk Graben».

1989 wird die Kernkraftgesellschaft Kaiseraugst mit 350 Millionen Franken vom Staat entschädigt. Diese hatte zu diesem Zeitpunkt bereits über eine Milliarde investiert. Doch von einer Entschädigung für die Kernkraftwerk Graben AG will der Staat nichts wissen. Denn im Gegensatz zu Kaiseraugst war Graben noch nicht im Besitz einer Rahmenbewilligung. Die 1988 von Bundesrat Adolf Ogi angebotenen zehn Millionen Franken fürs Terrain in Graben werden von der BKA als «untaugliche Verhandlungsgrundlage» abgetan.

Das Feilschen um die Entschädigung für Graben weckt im ersten Halbjahr 1990 noch einmal kurzzeitig Befürchtungen, dass das AKW Graben doch gebaut werden könnte. Denn der Bundesrat hält nach wie vor an der Option Kernenergie und am Standort Graben fest. Dazu kommt, dass weder der Bundesrat noch die Kernkraftwerk Graben AG von sich aus offiziell und unwiderruflich den Verzicht auf das AKW Graben erklären wollen. Schliesslich stehen einige Hundert Millionen Franken auf dem Spiel.

Der Bundesrat schiebt den Schwarzen Peter der Kernkraftwerk Graben AG zu. Er will bis Ende April 1990 verbindlich wissen, ob sie auf die Erteilung einer Rahmenbewilligung für das KKW-Projekt bestehe und bereit sei, die damit verbundenen Risiken zu tragen. Die Kernkraftwerk Graben AG antwortete am 10. Mai 1990, die Verzögerung durch den seit über zehn Jahren hängigen Rahmenbewilligungsentscheid müsse faktisch als Ablehnung betrachtet werden. Und dafür verlange sie eine angemessene Entschädigung.

Bald beruhigen sich die Gemüter der Gegner wieder. Ungeachtet, ob nun Geld fliessen wird oder nicht, stellt die Kernkraftwerk Graben AG am 20. August 1990 in einer Mitteilung definitiv klar: «Das Projekt Graben wird nicht verwirklicht werden.» Es ist vollbracht.

Aber eben: noch müssen die Rechnungen bezahlt werden. Am 20. August 1990 reicht die Kernkraftwerk Graben AG beim Bundesgericht Klage ein. Sie macht einen Schaden von über 600 Millionen Franken geltend und verlangt eine Entschädigung des Bundes in der Höhe von 300 Millionen Franken.

Der Bundesrat kontert, die Rahmenbewilligung sei nie erteilt worden und dürfe auch nicht «als verweigert» betrachtet werden. Somit gebe es auch keinen Grund, der Kernkraftwerk Graben AG eine Entschädigung zu bezahlen. Das Bundesgericht sieht es anders. Es stellt am 4. November 1994 einstimmig fest, «dass die Eidgenossenschaft wegen der faktischen Verweigerung der im Jahr 1979 beantragten Rahmenbewilligung eine Entschädigung zu entrichten hat». Über die Höhe der Entschädigung soll in einem zweiten Verfahrensschritt entschieden werden.

Am 16. Januar 1996 kommt es zu einem Vergleich vor Bundesgericht. Der Bund und die Kernkraftwerk Graben AG einigen sich auf eine Summe von genau 227 034 245 Franken. Der Betrag gilt als Entschädigung für den Nichtbau des AKWs Graben und das Geld kommt aus der Steuerkasse. So ist das halt: am Ende zahlt immer das Volk, der «kleine Mann» die Rechnung.

Gut zehn Jahre nach dem Ende der Kernkraftwerk Graben AG wird in der Gemeinde Graben 2006 das Land wieder zurückgezont. Über die ganze Angelegenheit ist im besten Wortsinn Gras gewachsen.

Literatur: Mehrere Ausgaben der Reihe «Jahrbuch für das Oberaargau», insbesondere die Ausgabe für das Jahr 2008 mit dem Beitrag von Ruedi Bärtschi, Langenthal.

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Abschaltung des AKW Mühleberg
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Abschaltung des AKW Mühleberg
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25,4 MRD. Für AKW-Rückbau
Video: srf
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15 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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rönsger
21.12.2019 21:29registriert Dezember 2014
Tolle Geschichte, lieber Klaus, fast eine Weihnachtsgeschichte. Zwei Sachen sind mir hängen geblieben: Es ist effektiv möglich, mittels konsequentem, harnäckigem und gewaltfreiem Widerstand der Zivilgesellschaft ein quasi schon durchgemischeltes Projekt zu Fall zu bringen. Geblieben ist mir aber auch, dass es möglich ist, versteckt und garniert mit etlichen Winkelzügen ein Projekt zu lancieren. Wird es realisiert, haben einige fest Freude. Scheitert es, kann man zum Trost trotzdem unverschämt viel Geld kassieren. Auch das ist (für die BKW) fast eine Weihnachtsgeschichte.
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El Vals del Obrero
21.12.2019 20:46registriert Mai 2016
Als Basler, der danach geboren wurde, bin ich den Besetzern von Kaiseraugst so unendlich dankbar.

Eines Tages standen einfach 10000 Leute auf der Baustelle. Und das ganz ohne Social-Media-Mobilisierungsmöglichkeiten.

Ein Artikel darüber wäre sicher auch sehr interessant.
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