In der digitalisierten Medienwelt sind publizistische Inhalte längst nicht mehr an nationale oder regionale Grenzen gebunden. Über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter können die Beiträge von Newssites weit über die Landesgrenzen hinaus hohe Reichweite erzielen. Artikel auf internationalen Newssites wie der «New York Times» werden wegen ihrer Relevanz selbst ausserhalb Amerikas geteilt.
Auch Schweizer Medien schaffen den Sprung über die Landesgrenze und werden vor allem in den Nachbarländern gelesen. Die Verbreitung ins Ausland und die damit verbundene grössere Zielgruppe erhöhen die Reichweiten von Schweizer Medien. Dies kann Folge einer bewussten Positionierung oder eher zufälliger Natur sein.
Das Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft (FÖG) der Universität Zürich hat in seiner neusten Studie untersucht, wie Beiträge von Schweizer Medien auf Twitter verbreitet werden. Dazu wurden alle Tweets erfasst, die über einen Link einen Beitrag von Schweizer Newssites geteilt haben (Zeitraum 1.8.2017 bis 30.9.2017).
Für die Studie wurden die 25 wichtigsten Newssites aus der Deutschschweiz, der Suisse romande und dem Tessin detailliert analysiert (355’197 Tweets). Die Untersuchung zeigt, dass die NZZ das meistgeteilte Medium auf Twitter ist. Besonders oft werden auch Beiträge von «20 Minuten» geteilt, bereits an dritter Stelle folgt die französischsprachige «Le Temps».
Viel interessanter ist jedoch, wer genau welche Artikel geteilt hat. Über die Follower-Verbindungen aller User (64’170 Unique-User) in unserem Datensatz erstellten wir ein Netzwerk und identifizierten mit Hilfe eines Algorithmus unterschiedliche Communities. Je näher sich zwei User im Netzwerk stehen, desto ähnlicher sind sie sich. Durch die Kombination von geteilten Artikeln und dem Follower-Netzwerk kann die Mediennutzung für einzelne Communities abgebildet werden. So konnten ausländische Communities identifiziert werden, die Schweizer Medieninhalte teilen.
Auffällig ist die sprachliche Aufteilung des Netzwerks. Die Deutschschweiz weist starke Verbindungen nach Deutschland auf und die französischsprachige Schweiz steht den Usern aus Frankreich sehr nahe. Neben den Schweizer Communities konnten wir eine Reihe von internationalen Communities identifizieren, in denen Schweizer Medienbeiträge populär waren.
Die Bundestagswahlen in Deutschland waren häufig Gegenstand der Berichterstattung von Schweizer Medien. User-Communities in Deutschland teilten deshalb viele Artikel auf Twitter. Besonders aktiv war die deutsche Rechte um die AfD (@AfD). Die prominentesten User in dieser Community sind allesamt AfD-nahe Accounts. Wenig überraschend waren in dieser Community Beiträge, die mit Angela Merkel hart ins Gericht gingen (z. B. «Rücktritt von Angela Merkel ist überfällig»), den Islam kritisch analysierten (z.B. «Bertelsmann redet die Integration von Muslimen in Deutschland schön») oder die Flüchtlingskrise thematisierten (z. B. «Sexhooligans vom Hindukusch») besonders erfolgreich.
Liebe Bertelsmannstiftung, die DDR hatte das Westfernsehen, wir haben zum Glück die Schweizer Medien!https://t.co/58lpUsq0oA
— IQ_Stimulator (@IQ_Stimulator) 3. September 2017
Dabei stammen die zehn meistgeteilten Beiträge in dieser Community alle von der «Basler Zeitung» (BaZ) oder der NZZ. Die beiden Newssites werden von den Usern dieser Community als neues «Westfernsehen» für Deutschland angepriesen. Dies ist eine Anspielung auf die ehemalige DDR, in der ARD und ZDF als einzige wahrheitsgetreue Nachrichtenquelle galten. Durch den thematischen Schwerpunkt erhielten die beiden Newssites in den deutschen Communities auf Twitter fast mehr Beachtung als in den Schweizer Communities und erhöhten dadurch die Reichweite ihrer Artikel.
Gefunden im neuen West-Fernsehen:
— Silke Bunners (@SBunners) 21. August 2017
Denkverbote statt Debatte: Haben die Deutschen das Streiten verlernt? https://t.co/6yR0BHXa9v via @NZZ
Schweizer Medien sind das neue Westfernsehen: "Dass Menschen aus Ländern mit einer rigiden Religionsauslegung... https://t.co/0Z3GuQr9ah
— AfD SOK (@AfD_SOK) 8. September 2017
Twitter ist ein Seismograph für politische Entwicklungen und Breaking News. Wichtige Ereignisse in der Politik erhalten auf Twitter zeitnah eine grosse Aufmerksamkeit. Die Artikel von Schweizer Medien zu aussenpolitischen Themen werden bei solchen Ereignissen oft von den direkt betroffenen Communities im Ausland geteilt. Ende September begannen User aus der katalanischen Community vermehrt französischsprachige Artikel von Schweizer Medien zu teilen, in denen über den Katalonienkonflikt berichtet wurde.
Diputats suïssos de tots els partits acusen Rajoy d'emprar "methodes indignes d'un Etat moderne et démocratique".https://t.co/E2frcqdDM1
— Jaume Clotet 🎗 (@jaumeclotet) 28. September 2017
Am erfolgreichsten war ein Artikel von RTS, in dem über den offenen Brief von Schweizer Parlamentarierinnen an die spanische Regierung berichtet wurde. Neben diesem Artikel wurden aber auch Beiträge anderer französischsprachiger Newssites aus der Schweiz, wie zum Beispiel der «Tribune de Genève», geteilt. Eine Karikatur der Zeitung wurde sogar vom katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont (@KRLS) geteilt.
Dessin du 27 septembre https://t.co/0dMqKi9PwB via @tdgch
— Carles Puigdemont 🎗 (@KRLS) 27. September 2017
Sprachbarrieren sind kein Hindernis für die Verbreitung von Inhalten. Schweizer Medien werden auch von vorwiegend englischsprachigen Communities geteilt. Ein Beispiel sind englischsprachige User, die am ganz rechten Rand politisieren. Am erfolgreichsten waren in dieser eher kleinen Community Artikel von «20 Minuten». Auf den ersten Blick erstaunt dieses Ergebnis, da die meisten User in dieser Community englischsprachig sind. Die geteilten Artikel werden aber alle direkt über Google Translate auf Englisch übersetzt. Verbreitet werden sie von Twitter-Accounts, die Artikel zu bestimmten Themen suchen und diese dann teilen.
Geteilt werden Medienbeiträge von ausgewählten Quellen, die das ideologische Weltbild stützen – gegen den Islam, gegen Flüchtlinge und gegen die EU. Offenbar wird «20 Minuten» von einem solchen Account getrackt. Kurzmeldungen zu Gewaltverbrechen mit ausländischem Täter werden dann direkt mit Google Translate übersetzt und geteilt. Auffällig ist bei dieser Community, dass einige Accounts ein stark automatisiertes Verhalten aufweisen und es sich wahrscheinlich um Bots handelt.
Twitter ist in den meisten Ländern grösstenteils ein Elitenetzwerk. Trotzdem zeigt unsere Analyse das Potential von Twitter auf. Schweizer Medien erreichen mit ihren Artikeln immer wieder ausländische Politiker und Meinungsführer. Vor allem in Deutschland und wenn es um Merkel oder den Islam geht.
Der NZZ kommt als Leitmedium eine besonders hohe Bedeutung zu. Sie ist sowohl im Ausland als auch in der Schweiz eine der wichtigsten Quellen auf Twitter. Zu spezifischen Themen oder Ereignissen können aber auch andere Medien mit hohen Reichweiten punkten, wie das Beispiel mit Katalonien und RTS zeigt.
Neben der NZZ war erstaunlicherweise auch die BaZ populär. Im Gegensatz zur NZZ verdankt die BaZ jedoch ihr hohes Volumen hauptsächlich der ausländischen Reichweite.