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Coronavirus

Schweizer Beratungsstellen verzeichnen wegen Corona extremen Anstieg

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Eine junge Frau im Gespräch mit Pro Juventute. Die Chat-Anfragen haben bei der Stiftung zwischen März und August um 170 Prozent zugenommen. Bild: pro juventute

170 Prozent mehr Anfragen: Wer wegen Corona mehr Hilfsangebote in Anspruch nimmt

Immer mehr Menschen suchen in der Corona-Krise Hilfe bei Beratungsangeboten. Pro Juventute verzeichnete im Frühling 170 Prozent mehr Chat-Anfragen. Und auch die Dargebotene Hand beobachtet im Oktober einen erneuten Anstieg an Hilfesuchenden.
25.11.2020, 10:4625.11.2020, 12:22
Helene Obrist
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Die Corona-Pandemie hinterlässt nicht nur wirtschaftliche Spuren, sondern auch gesellschaftliche. Das zeigt eine Auswertung des Beratungsbüros Bass. Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) wertete Bass aus, welchen Einfluss Covid-19 auf die Gesundheit der Schweizerinnen und Schweizer hat.

In der Studie weisen Expertinnen und Experten darauf hin, dass Unsicherheit und Fremdbestimmung für Menschen generell belastende Faktoren sind. Deshalb prüft das BAG aktuell Konzepte, um das Thema psychische Gesundheit und entsprechende Unterstützungsangebote gemeinsam mit Partnerorganisationen in den Wintermonaten stärker zu kommunizieren.

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Zu diesen Partnerorganisationen gehören unter anderem die Dargebotene Hand und Pro Juventute. Beide Organisationen wurden vom Bund bereits im Frühjahr finanziell unterstützt, damit diese ihre Kapazitäten erhöhen konnten. «Wir begrüssen es sehr, dass der Bund sich um das Thema Mental Health kümmert und dies in einer Kampagne zum Ausdruck bringen will», sagt Sabine Basler, Geschäftsführerin der Dargebotenen Hand.

An employee of the telephone counselling service "The Offered Hand" speaks with a caller in Zurich, Switzerland, pictured on June 30, 2008. The "Offered Hand" is a helpline for peo ...
Eine Mitarbeiterin der Dargebotenen Hand am Telefon. Bild: KEYSTONE

Die Dargebotene Hand, die ein offenes Ohr für Sorgen aller Art via die Nummer 143, aber auch über digitale Kanäle anbietet, wurde zwischen April bis Oktober deutlich häufiger kontaktiert. «Wir verzeichneten fast 1300 Gespräche mehr pro Monat als noch im Jahr 2019», so Geschäftsführerin Basler. Im Juli hätte sich die Situation wieder etwas beruhigt. «Seit Oktober beobachten wir aber wieder eine Zunahme der Kontaktaufnahmen.»

Ältere Menschen und Männer suchen mehr Halt

Im Frühling wurde die Dargebotene Hand überdurchschnittlich häufig von über 65-Jährigen kontaktiert. Die Telefongespräche nahmen im Vergleich zum Vorjahr in dieser Altersgruppe um 12,6 Prozent zu. Auch führten die Freiwilligen bei der Dargebotenen Hand mehr Gespräche mit Männern als noch im Vorjahr. «Zwischen April und Oktober hat die Kontaktaufnahme von männlichen Personen um 8 Prozent zugenommen», weiss Basler.

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bild: projuventute

In den Gesprächen wurden vor allem die Themen Alltagsbewältigung und Einsamkeit stark thematisiert, wie der sprunghafte Anstieg in der folgenden Grafik zeigt.

Gespräche über die Bewältigung des Alltags nahmen bei der Dargebotenen Hand im März sprunghaft an.
Gespräche über die Bewältigung des Alltags nahmen bei der Dargebotenen Hand im März sprunghaft an. bild: projuventute

Im März und April hatten viele Menschen zudem Angst davor, sich mit dem Coronavirus zu infizieren. Vergleichbar mit der Fallzahlenkurve nahm diese Sorge den Sommer über wieder ab, verzeichnet nun aber wieder einen leichten Anstieg.

Besonders im März und April machten sich viele Menschen Sorgen darüber, sich mit dem Coronavirus anzustecken.
Besonders im März und April machten sich viele Menschen Sorgen darüber, sich mit dem Coronavirus anzustecken. bild: projuventute

«Wir beobachten die aktuelle Situation sehr genau», so Geschäftsführerin Basler. «Wenn die Anfragen wieder zunehmen, dann stocken wir die Schichten in den regionalen Stellen auf. Sodass wir stets so viele Anfragen wie möglich annehmen können.»

170 Prozent mehr Anfragen

Auch bei der Stiftung Pro Juventute, die Kinder und Jugendliche auf diversen Kanälen berät, haben die Beratungsanfragen im Frühling stark zugenommen. «Im Vergleich zum Vorjahr verzeichneten wir von März bis August 170 Prozent mehr Chat-Anfragen», so Mediensprecherin Lulzana Musliu.«Während des Lockdowns war es für viele Jugendliche wohl aufgrund der Tatsache, dass plötzlich die meisten Eltern und Kinder gemeinsam zu Hause waren, einfacher, uns schriftlich anstatt telefonisch zu kontaktieren.»

Besonders die Angst davor, Freunde zu verlieren, habe die Jugendlichen während dem Frühling und Sommer stark bewegt. «Gespräche darüber haben im Vergleich zum Vorjahr um 153 Prozent zugenommen», so Musliu. Aber auch Konflikte mit den Eltern, Einsamkeit und Gewalt in der Familie seien stärker thematisiert worden als noch im Vorjahr.

Ähnlich wie auch bei der Dargebotenen Hand flachten die Anfragen den Sommer hinüber wieder etwas ab. Ob sie in den Wintermonaten wieder zunehmen, sei schwierig abzuschätzen, so Musliu. Man sei aber bereit, das Angebot wieder aufzustocken, würden die Anfragen wieder zunehmen.

Dafür nötig sei aber zunehmend auch eine Unterstützung durch die öffentliche Hand. «Dass die Finanzkommission des Ständerats gerade letzte Woche entschieden hat, den Kredit für die Kinderrechte nicht erhöhen zu wollen, irritiert uns», so Musliu. «Wir sehen klar, dass die Probleme der Kinder und Jugendlichen während der Corona-Krisen zugenommen haben. Dass man nun gerade bei den Schwächsten spart, finden wir nicht angebracht.»

Stress, Sorgen, Einsamkeit? Hier erhältst du Hilfe
In der Schweiz gibt es Stellen, die während der Coronakrise für Menschen da sind – vertraulich, in der Regel kostenlos und meist rund um die Uhr.

Beratungsüberblick «Hilfe finden» des Bundesamts für Gesundheit: www.bag-coronavirus.ch/hilfe/

Telefonische Hilfe der Dargebotenen Hand: Telefon 143; www.143.ch

Tipps und Angebote, um die psychische Gesundheit zu stärken: www.dureschnufe.ch

Beratung für Jugendliche: Telefon 147; www.147.ch

Pro Mente Sana Beratungstelefon «Coronavirus und psychische Gesundheit»: Telefon 0848 800 858 (Normaltarif)

«Reden kann retten» für Menschen in suizidalen Krisen: www.reden-kann-retten.ch
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12 Kommentare
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7immi
25.11.2020 11:16registriert April 2014
Erst kürzlich las ich in der NZZ einen Artikel über einen eindrücklichen Fall. Ein 32-Jähriger Schauspieler fiel mit der Schliessung der Theater in ein mentales Loch. Keine Tagesstruktur mehr zu haben, keinen Nutzen der eignenen Tätigkeit oder gar Existenz zu sehen sind fatal. Ein Faktor, der nicht messbar ist (im Gegensatz zu wirtschaftlichen Aspekten oder Coronatodesfällen). Daher finde ich den schweizer Mittelweg so wichtig, denn es gibt nicht nur "Coronagesundheit" und Wirtschaft, sondern auch noch zig andere Herde und Brennpunkte, die sich erst im Nachhinein zeigen werden.
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