Es ist ein Riesenerfolg. Normalerweise braucht es zehn Jahre, bis ein Impfstoff erforscht, entwickelt und auf dem Markt eingeführt ist. Bei der Impfung gegen Covid-19 dauerte es nur zehn Monate. Bereits nächste Woche werden die ersten Menschen in Grossbritannien gegen die Krankheit geimpft, die seit Anfang Jahr unser Leben diktiert. Bald danach auch in den USA.
Zu Stande kam der Grosserfolg dank einer vorbildlichen Zusammenarbeit unter Forschern und Pharmafirmen. Milliarden von Dollar wurden gesprochen, Studien aufgezogen, Daten ausgetauscht. Nun ist der ersehnte Impfstoff da. Doch die Freude in der Bevölkerung ist gedämpft. Die Rekordzeit, mit welcher der Impfstoff entwickelt worden ist, führt zu Skepsis.
In Deutschland protestieren Tausende gegen die Impfung. In der Schweiz begann diese Woche die freiheitliche Bewegung, Unterschriften gegen eine «Impfpflicht» zu sammeln – obwohl der Bundesrat versichert hat, dass sie auch bei Corona nicht eingeführt werde. Gemäss einer Umfrage der Tamedia-Zeitungen will sich in der Schweiz nur jeder Zweite gegen Covid-19 impfen lassen. Das deckt sich mit Studien aus anderen Ländern, etwa den USA (siehe Artikel rechts). Gegen die Impfung sind nicht nur Laien. Im Gegenteil: Einer Umfrage des Gesundheitsportals Medinside zufolge sind zwei Drittel der befragten Ärztinnen und Krankenpfleger gegenüber einer Corona-Impfung zurückhaltend. Nur ein Drittel will sich rasch impfen lassen.
Mehr und mehr zeigt sich: Der entscheidende Schritt war nicht die Entwicklung der Impfung selber. Er steht noch bevor: Die Bevölkerung muss vom Nutzen und der Sicherheit der Impfung überzeugt werden.
Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, zeigt ein gewisses Verständnis für die Vorbehalte in der Bevölkerung: «Wir wissen noch nicht genau, was wir mit dem Covid-19-Impfstoff haben. Das zeigt sich erst mit den Endresultaten der klinischen Phase-III-Studien.» Da sei eine gewisse Zurückhaltung verständlich. Er betont aber auch, dass die Impfbereitschaft in der Schweiz generell nicht schlecht sei. Die grosse Mehrheit würde sich an den nationalen Impfplan halten. Er hofft deshalb: «Sind die Zulassung und alle Informationen bei der Covid-19-Impfung vorhanden, die Strategie klar, wird die Zurückhaltung in der Bevölkerung nicht mehr so gross sein.»
Klar ist: Die Impfung ist im Moment der einzige Weg zurück in die Normalität. Wenn wir uns nicht über Jahre auf Social Distancing und Masken einstellen wollen, gibt es keine Alternative. Damit das gelingt, müssen 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Die Strategie des Bundes zielt allerdings vorerst gar nicht auf eine Herdenimmunität ab, sondern darauf, die Risikogruppen und das Gesundheitspersonal und deren Familien zu impfen. Noch weiss man aufgrund der Studienresultate aber nicht, ob die vorhandenen Impfungen gegen Covid-19 nur die geimpften Personen vor einer Erkrankung schützen oder auch verhindern, dass sie das Virus weitergeben können. Weitere Studien werden Klarheit schaffen.
Dass die Schweiz nicht vorpresche wie Grossbritannien, macht für Claus Bolte von der Arzneimittelbehörde Swissmedic Sinn. Derzeit haben neben der in England verwendeten Impfung der Unternehmen Pfizer/Biontech mit Moderna und Astra-Zeneca zwei zusätzliche Firmen bei US- und europäischen Gesundheitsbehörden die Zulassung beantragt. Ausserdem gibt es 140 weitere Impfstoffkandidaten. Sie haben unterschiedliche Wirkungen. Erst nach und nach wird sich zeigen, welcher sich für wen am besten eignet. «Je mehr Impfstoffe wir haben, desto besser für die Bevölkerung», sagt Bolte. Die Entwicklung des Impfstoffs ist das eine, er muss aber auch in genug grosser Menge produziert und den Menschen verabreicht werden. «Man kann nicht die ganze Schweiz in einer Woche impfen. Generell braucht es mindestens ein halbes Jahr, bis die Schweiz bedeckt wäre», sagt Tanner. Sofern die Bevölkerung bereit ist, sich impfen zu lassen. Der Epidemiologe gibt sich zuversichtlich: «Wenn man gut und offen kommuniziert, was Nutzen und Risiken sind, also welche Nebenwirkungen vorkommen können, dann wird sich die Anzahl der Impfbereiten laufend vergrössern.»
Ähnliches hat man im Frühling bei der Einführung der Swiss-Covid-App gedacht. Auch hier hat der Bund auf eine rasche Einführung per Notrecht verzichtet und zuerst den Segen des Parlaments eingeholt. Geholfen hat’s wenig. Lediglich zwei Millionen Menschen nutzen die App derzeit; zu wenig, als dass sie in der Pandemiebekämpfung einen grossen Einfluss haben könnte. Klar, der Nutzen der App ist nicht gleich konkret – und Akkuprobleme verursacht eine Impfung nicht. Dennoch: Nun geht es nicht darum, sich aus Solidarität zu seinen Mitmenschen eine Software auf sein Mobiltelefon zu laden, sondern ein Stück RNA in den Körper zu jagen. Statt Bedenken vor Datenschutzverletzungen steht nun die Angst vor Nebenwirkungen im Zentrum. Sind die Menschen hier tatsächlich eher bereit, den Schritt zu machen?
«Ich erachte es als moralisch-soziale Pflicht, sich impfen zu lassen», sagt der Bioethiker Christoph Rehmann-Sutter. Allergien und Unverträglichkeiten können ein Grund sein, eine von der Swissmedic zugelassene Impfung abzulehnen. «Sonst sehe ich wenig überzeugende Gründe», sagt der ehemalige Präsident der Schweizer Ethik-Kommission und Professor für Bioethik an der Universität Lübeck. Dennoch spricht sich Rehmann-Sutter gegen eine Impfpflicht aus. «Nur in Notfällen darf man ohne die Einwilligung des Patienten Eingriffe vornehmen.»
Auch zu viel moralischen Druck auf die Bürger lehnt der Ethiker ab. «Ich glaube, dass er gerade in der Schweiz kontraproduktiv wirken könnte und die Menschen sich dann aus Trotz nicht impfen lassen.» Letztlich ginge es um die Einsicht: Je mehr Menschen geimpft sind, desto besser. Auch Christoph Berger von der Kommission für Impffragen ist gegen einen Impfzwang, und der Epidemiologe Marcel Tanner sagt: «Mit einem Impfobligatorium führt man viele direkt in die Hände der Impfgegner.» Wichtiger sei transparente Kommunikation und Aufklärung.
Vielleicht helfen der allgemeinen Impffreudigkeit ein paar positive Anreize. Die Präsidentin der Gesundheitskommission Ruth Humbel hat sich in der «Schweiz am Wochenende» für einen Immunitätsausweis ausgesprochen. Menschen, die nach einer Impfung immun gegen das Virus sind, könnten dann wieder mehr Freiheiten geniessen. Ihnen stünden die Türen zu Fussballstadien, Theatern und Flugzeugen wieder offen. Die australische Fluggesellschaft Qantas plant bereits eine Corona-Impfpflicht auf ihren internationalen Flügen.
Es wird auch eine internationale Regulierung geben, sagt Tanner. Ob Länder Menschen ohne Corona-Impfungen die Einreise verweigern werden, wird sich zeigen. Solche Massnahmen gebe es allerdings schon lange, hält der Epidemiologe fest. Südamerikanische Länder lassen niemanden ohne Gelbfieberimpfung einreisen, und wer in den USA studieren will, muss gewisse Impfungen vorweisen können.
Noch weiter will der Gesundheitsökonom Willy Oggier gehen. In einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen hat er vorgeschlagen, dass Coronaskeptiker im Zweifelsfall, wenn es also um die Triage geht, kein Bett auf der Intensivstation bekommen. Wer sich der Impfung verweigert, dem wird die Nothilfe verweigert? Davon hält Bioethiker Rehmann-Sutter nichts: «Das wäre ein Präzedenzfall.» Mit dem gleichen Argument der könnte man auch begeisterten Bergsteigern, riskanten Motorradfahrern oder lungenkrebskranken Kettenrauchern die Hilfe absprechen. «Wenn man das ‹Selber schuld›-Argument einmal zulässt, kann das negative Folgen für uns alle haben», sagt der Ethiker.
Die Corona-Impfung ist vorhanden, im Januar ist sie wohl auch in der Schweiz verfügbar. Gratis für alle, wie der Bundesrat verspricht. Wenn der Impfstoff da ist, wurde uns versprochen, wird das Leben wieder normal. Jetzt zeigt sich: Das ist nicht so. Zumindest nicht so schnell.
Aber ich verstehe die - gesunde - Skepsis gegenüber der Corona-Impfung. Wie siehts mit Kurz- und Langzeitfolgen aus?
Auch ich lasse hier gerne anderen (Ländern) den Vortritt und warte ab, wie sich das entwickelt.
Wenn der Moment dann da ist, werde auch ich mich impfen lassen.