Geschützte Operationsstelle – so heisst die unterirdische Anlage beim Kantonsspital Aarau offiziell. Derzeit leben rund 220 Asylbewerber im Bau, wie Balz Bruder, Sprecher des kantonalen Sozialdepartements, auf Anfrage sagt. «Es ist wie im Gefängnis», beklagt sich ein älterer Mann mit einem traurigen Lächeln gegenüber Tele M1. Einige der Bewohner würden über ein Jahr in der unterirdischen Anlage ausharren – praktisch ohne Sonnenlicht. «Die Menschen drehen hier durch», sagt ein anderer Asylbewerber. Bereits fünf Personen seien ausgerastet und in die Psychiatrie eingeliefert worden.
Ob der 27-jährige Iraner, der am frühen Samstagmorgen in der Asylunterkunft einen 43-jährigen Landsmann erstochen hat, «ausgerastet» oder «durchgedreht» ist, kann Polizeisprecher Bernhard Graser derzeit noch nicht sagen. Der geständige Täter sei zwar befragt worden, sein zweites Opfer, ein weiterer Iraner (25), liege noch immer schwer verletzt im Spital und sei noch nicht vernehmungsfähig. Vorerst bleibt das Motiv der Bluttat also im Dunkeln, mehrere Bewohner der Unterkunft sehen aber einen eindeutigen Zusammenhang zwischen ihren Wohnbedingungen und der Messerstecherei.
Feudal sind die Verhältnisse unter dem Boden tatsächlich nicht. Die rund 220 Asylbewerber teilen sich 15 Toiletten und 12 Duschen. In den winzigen Schlafräumen, in welche kaum frische Luft strömt, soll es ausserdem fürchterlich stinken. Tele M1 berichtete, der spätere Täter solle mehrmals um eine Verlegung in eine andere Unterkunft gebeten haben, weil er es in der Anlage nicht aushielt und ihm sprichwörtlich «die Decke auf den Kopf falle».
Balz Bruder, der Sprecher des Sozialdepartements, bestreitet diese Darstellung: «Der Täter selbst ist nicht vorstellig geworden, er hat sich weder über die Unterbringung beklagt, noch nach einer Umplatzierung verlangt.» Dennoch wurden noch am Wochenende rund 30 Bewohner aus dem Notspital Aarau in oberirdische Unterkünfte umplatziert. «Sie waren den beiden Schlafräumen zugeteilt, in denen Täter und Opfer untergebracht waren», erläutert Balz Bruder.
Unabhängig von derartigen Vorfällen kommt es immer wieder vor, dass einzelne Asylbewerber eine Verlegung wünschten. Dabei sei grundsätzlich immer der Einzelfall zu beurteilen, wobei insbesondere medizinische, inklusive psychische Indikationen für eine Verlegung sprechen könnten.
Wie der psychische Zustand des Iraners war, der mit einem Messer auf seine zwei Landsleute einstach, ist schwierig zu beurteilen. Ein weiterer Bewohner des Asylzentrums hat die Bluttat mit eigenen Augen miterlebt; er sei aufgrund des Lärms erwacht und habe dann den blutverschmierten Täter vor sich gesehen. Dieser hatte das Messer noch in der Hand und schrie: «Wer will noch, ich bringe euch alle um!», beschreibt der Mann die Szene gegenüber «TeleM1».
Als um 6.45 Uhr am Samstagmorgen die Meldung über eine Auseinandersetzung in der Asylunterkunft bei der Polizei einging, seien sofort mehrere Patrouillen ausgerückt, sagt Bernhard Graser. «In solchen Fällen setzen wir immer acht bis zehn Polizisten ein, weil die Unterkunft ziemlich unübersichtlich und verwinkelt ist und wir kein Risiko eingehen wollen.»
Der junge Iraner liess sich nach seiner Tat allerdings widerstandslos verhaften, obwohl er das Messer laut Mitteilung noch in der Hand hielt. «Es handelt sich nicht um ein Klappmesser oder sonst ein speziell gefährliches Modell, doch diese Tat zeigt, dass ein ganz gewöhnliches Küchenmesser reicht, um schwere Verletzungen zu verursachen», sagt Graser.
Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass die Polizei zur Unterkunft beim Kantonsspital Aarau ausrücken musste. Wie der Stadtrat im Juni auf eine Interpellation von SVP-Einwohnerrat und Staatsanwalt Simon Burger schrieb, wurden allein von Januar bis Ende Mai insgesamt 44 Interventionen registriert. Innerhalb der Unterkunft kam es 13-mal zu Drohungen oder Streit – derart gravierend wie am Samstag waren die Auseinandersetzungen aber bisher noch nie.
Über die Hintergründe der Tat ist noch nichts bekannt – klar ist aber: die Asylbewerber sind in der Unterkunft nicht sich selbst überlassen, sondern werden betreut. «Bei den Geschützten Spitälern handelt es sich um Asylunterkünfte, die 7 mal 24 Stunden betreut werden», erklärt Balz Bruder. In der Gops Aarau seien rund 20 Betreuungspersonen tätig. «Zudem finden auch Patrouillen von öffentlichen und privaten Sicherheitskräften statt», führt Bruder aus. Er ergänzt, beim Eingang zur Unterkunft fänden stichprobenweise Kontrollen der Bewohner auf Waffen statt. «Auch ein Sicherheitsdispositiv mit Eingangskontrolle hätte die Tat nicht verhindern können», sagt der Sprecher zur Frage, ob strengere Kontrollen geplant sind.
Bruder kündigt aber an, die Betreuungsfirma ORS und der Kanton würden künftig «ein noch stärkeres Augenmerk auf die Früherkennung von möglichen Problempersonen richten und im Rahmen des Möglichen ein Maximum an Beschäftigung der Asylsuchenden organisieren.»
Grundsätzlich können die Asylsuchenden die Unterkunft im Notspital betreten und verlassen, wann sie wollen. Dies, zumal es sich nicht um eine geschlossene Anlage handle, was rechtlich auch nicht zulässig wäre. «Die Hausordnung sieht aber selbstverständlich Ruhe-, Koch- und andere Zeiten vor, um die interne und externe Ruhe und Ordnung sicherstellen zu können», sagt Balz Bruder.
Von den vier Geschützten Operationsstellen bei Spitälern, welche der Kanton phasenweise als Asylunterkünfte nutzte, sind derzeit nur noch Aarau und Baden in Betrieb. Wäre es angesichts der Kritik an den unterirdischen Quartieren denkbar, auch die 400 Personen, die noch dort untergebracht sind, in andere Unterkünfte zu verlegen? Obwohl das Staatssekretariat für Migration die Annahmen für Asylgesuche kürzlich nach unten korrigiert hat, winkt Bruder ab. «Weitere Schliessungen von Geschützten Operationsstellen – nach Muri und Laufenburg – sind aufgrund der aktuellen Belegungssituation nicht vorgesehen.»