Eritreische Flüchtlinge haben in den vergangen Jahren eine Asyl-Verschärfung nach der anderen erlebt. Faktisch haben jene Menschen, die vor der Diktatur und dem Nationaldienst flüchten, heute kaum mehr Chancen auf Schutz in der Schweiz: Zuerst wurde die illegale Ausreise als Fluchtgrund aberkannt, dann wurde behauptet, das Desertieren vom Nationaldienst stelle keine Gefahr für Rückkehrer dar. Und zuletzt entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass in Eritrea keine Situation allgemeiner Gewalt bestehe und folglich eine Rückkehr dorthin nicht generell unzumutbar sei.
Das hatte für die betroffenen Menschen prekäre Folgen: Sie werden nicht mal «vorläufig aufgenommen» – sondern kassieren vermehrt ablehnende Entscheide auf ihr Asylgesuch. Doch weil Eritrea bis heute keine Zwangsausschaffungen akzeptiert, bleiben diese Menschen zuletzt trotzdem hier. Papierlos und mit einem minimalen Anspruch auf Nothilfe.
Recherchen von watson zeigen nun eine weitere Verschärfung. Die Schweiz informiert seit 2019 die eritreischen Behörden, falls ein abgewiesener Asylsuchender die Schweiz nicht freiwillig verlassen will.
Dieser Datenaustausch wurde vom Bundesrat im vergangenen Mai als «verbesserte Zusammenarbeit im Bereich der Identifikation von Einzelfällen» angepriesen. Dahinter versteckt sich aber eine neue Praxis, die von Politik, Betroffenen, Juristen und Aktivisten kritisiert wird.
Das SEM stellt sich auf den Standpunkt, dass weggewiesene Personen bis gegebener Frist ihre Ausreise selbst organisieren müssen. Im Fall Eritrea sei eine freiwillige Rückkehr zumutbar, falls rechtskräftig festgestellt wird, dass ein Asylsuchender den «Schutz der Schweiz» nicht mehr benötige. «Bleibt die nun ausreisepflichtige Person jedoch inaktiv bei der Beschaffung von Reisedokumenten und der Vorbereitung zur Ausreise, tätigt das SEM Abklärungen zur Herkunft und Identität dieser Person.»
Solche Identifikationsabklärungen sind im Asylbereich nicht ungewöhnlich. Es gilt aber der Grundsatz, dass die Heimatbehörden eines Geflüchteten nichts vom Asylgesuch erfahren dürfen, auch wenn die Schweizer Behörden dieses abgelehnt haben. Dieser Grundsatz ist seit 2007 gesetzlich verankert. Das Asylgesetz verbietet seither den Austausch von Personendaten von Asylsuchenden, falls dadurch die betroffene Person oder Angehörige gefährdet würden.
Zweifelhaft ist, ob dieser Grundsatz eingehalten wird – sprich, ob das SEM mit der Weiterleitung der Daten an die eritreischen Behörden das Gesetz verletzt. Der Austausch von Personendaten kann grundsätzlich so erfolgen, dass Beamte in Eritrea nichts von einem Asylgesuch erfahren. Eine involvierte Person, die namentlich nicht genannt werden möchte, erklärt:
Auch wenn die Schweizer Behörden ihre Identifikationsanfragen vorsichtig und rechtskonform formulieren: Die eritreischen Behörden werden mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit davon ausgehen dürfen, dass es sich um einen Landsmann handelt, der in der Schweiz Asyl beantragt hat. Diesen Schluss erlaubt die Statistik zur «Rückkehrunterstützung»: Ende August betraf eine einzige von 430 laufenden Identifikationsanfragen bei Eritrea einen Fall ausserhalb des Asylbereichs.
Ob diese Praxis gegen das Asylgesetz verstösst, ist juristisch unbeantwortet. Der renommierte Migrationsrechtler und Asylrechtsexperte Alberto Achermann bezeichnet das als «Auslegungsfrage». «Es ist juristisch nicht geklärt, ab welcher statistischen Wahrscheinlichkeit eine Identifikationsanfrage etwas über ein mögliches Asylgesuch verrät», sagt Achermann. Unbestritten sei nur, dass dadurch eine Person oder ihre Angehörigen nicht gefährdet werden dürften.
Kritischer sieht das der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte (kurz EDÖB). Sein Sprecher Hugo Wyler äussert sich zwar nicht dazu, ob Zahlen etwas über ein mögliches Asylgesuch verraten. Er stellt jedoch fest, dass die Schweizer Behörden den Kontakt mit dem Heimat- oder Herkunftsstaat nur dann aufnehmen dürften, wenn eine «Wegweisung auch tatsächlich stattfindet/stattfinden kann».
Im Fall von Eritrea liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: Wenn ein abgewiesener eritreischer Flüchtling die Schweiz nicht freiwillig verlassen will und mangels Rücknahmeabkommen nicht zwangsweise nach Eritrea gebracht werden kann, dann ist der Datenaustausch nicht erlaubt. Asylrechts-Experte Achermann fragt sich deshalb auch, was der Zweck solcher Identifikationsanfragen ist: «Wenn man das nicht für eine zwangsweise Wegweisung und auch nicht bei freiwilligen Rückkehrern macht: Wozu dann?»
Das SEM begründet das mit dem gesetzlichen Auftrag, wonach der Bund den Kantonen Vollzugsunterstützung leisten muss. «Daran ändert auch der Umstand nichts, dass eine Person nicht freiwillig zurückkehren möchte, bzw. dass die Kooperation seines Herkunftsstaates mangelhaft ist», schreibt SEM-Sprecher Reto Kormann weiter.
Möglich ist, dass sich die Schweiz durch eine solche Zusammenarbeit den Gesprächskanal zu Eritrea offen lassen will, um irgendwie, irgendwann ein Rücknahmeabkommen aushandeln zu können. Die bisherigen Bemühungen blieben nämlich ohne politischen Erfolg. So heisst es in einem internen Deza-Bericht, den watson gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz erhalten hat, dass Eritreas Regierung keine Rückkehrenden aus dem Ausland möchte. «Zum einen wegen der wegfallenden Remissionszahlungen, zum anderen aus einer gewissen Furcht vor Unruhestiftern.»
Der Bericht stellt weiter fest, dass bislang kein einziger Staat Glück mit einem Rücknahmeabkommen gehabt habe. Geholfen habe nicht einmal eine «vertrauensbildende Massnahme» in Form von EU-Investitionen in der Höhe von 200 Millionen Euro. Die interne Analyse ergänzt dazu lakonisch: «eine entsprechende Gegenleistung in Form eines Rückübernahmeabkommens blieb aus».
Der heikle Datenaustausch kommt deshalb auch schlecht bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe an. Sie bezeichnet das Vorgehen des SEM als «sehr bedenklich». Eritrea sei nach wie vor eine «repressive Diktatur und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung». Erfahren eritreische Behörden, dass sich möglicherweise regimekritische Bürger in der Schweiz aufhalten, dann könnten Familienangehörige in Eritrea unter Druck gesetzt werden.
Eliane Engeler, Sprecherin der Flüchtlingshilfe, erwähnt dabei auch die sogenannte «Diaspora-Steuer». Eritrea erhebt bei seinen Bürgerinnen und Bürgern im Ausland eine 2-Prozent-Steuer, mit der das Land aufgebaut werden soll. Gerüchte, wonach diese Steuer auch gewaltsam oder mit Druckversuchen eingetrieben werde, konnte der Bundesrat 2013 nicht bestätigen. Er stellte aber fest, dass eritreische Botschaften auch mal auf die Bezahlung der Diaspora-Steuer pochen, bevor sie einer Landsfrau irgendeine konsularische Leistung anbieten.
Eine solche konsularische Leistung wären beispielsweise amtliche Papiere, der Geburtsschein oder gar Reisepässe. Stellt sich heraus, dass ein abgewiesener Asylsuchender aus dem eritreischen Nationaldienst desertiert ist, wird gar eine höhere Zahlung oder ein «Reuebrief» verlangt. Eine Garantie, dass man sich nach freiwilliger Rückkehr auch in Sicherheit wiegen kann, gibt's nicht. Deshalb bleiben viele Eritreerinnen und Eritreer in der Schweiz oder tauchen sonst wo unter, um ausserhalb des Radars der regimetreuen Botschaft zu sein.
Der heikle Datenaustausch sorgt auch für Kritik im Bundeshaus. SP-Nationalrätin Samira Marti sagt: «Wenn es stimmt, dass das SEM die eritreischen Behörden wissen lässt, welchen Menschen das Asyl hierzulande verweigert wurde, dann ist das ein regelrechter Skandal.» Die Baselbieterin sitzt in der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, die sich mit der Migrationspolitik des Bundesrats befasst. Marti kündigt an, dass sie diesen Datenaustausch in der Kommission thematisieren und Antworten vom Bundesrat zur Rechtmässigkeit dieser «fragwürdigen Partnerschaft der Schweiz mit Eritrea» verlangen werde.
Die Sozialdemokratin betont in ihrer Stellungnahme die prekäre Asylsituation der Menschen aus Eritrea. «Seit der Verschärfung durch die Rechtsprechung leben viele Eritreerinnen und Eritreer in unwürdigen Verhältnissen. Wenn die Schweiz nun abgewiesene Asylsuchende beim eritreischen Regime meldet, dann ist das ein neuer Gipfel in der tragischen Asylpolitik.»
Die Schweiz wurde im Mai 2020 von einem Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrats scharf dafür kritisiert. Im Bericht wird Besorgnis zu den 56 Menschen, die freiwillig nach Eritrea zurückgekehrt sind, geäussert: «Diese Personen könnten einem Risiko ausgesetzt werden, da ihre Rückkehrbedingungen nicht angemessen überwacht werden können.»
Alt Bundesrat Didier Burkhalter, der Vorgänger des heutigen Aussenministers Ignazio Cassis, will zwar die aktuelle Entwicklung zwischen der Schweiz und Eritrea nicht kommentieren. Burkhalter betont jedoch, dass sich sein Grundsatz in Menschenrechtsfragen nicht geändert habe. «Nur eine deutliche Verbesserung in ganz bestimmten Bereichen der Menschenrechte» würde es ermöglichen, einen «echten Dialog mit diesem Land» aufzunehmen. Im Statement gegenüber watson erwähnt er etwa die Möglichkeit für «neutrale und glaubwürdige Organisationen» wie das Internationale Rote Kreuz, Gefängnisse in Eritrea zu besichtigen.
Das ist bis heute nicht der Fall.
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