Der «Tages-Anzeiger» hat am Montag über einen bislang unbekannten Aspekt des Vietnamkriegs berichtet, in dem die Schweiz eine äusserst unrühmliche Rolle spielte.
Schweizer Firmen verkauften während des Vietnamkriegs Hunderttausende Uhrenteile an die Amerikaner. Diese Teile – im Fachjargon Pinions and Gears genannt – wurden als Zünder für Artillerie- und Flugabwehr-Geschosse verwendet.
Die hiesige Uhrenindustrie habe mit solchen Exporten in die USA zwischen 1965 und 1973 gut 120 Millionen Franken eingenommen. Im Vietnamkrieg starben vorsichtigen Schätzungen zufolge 2,5 Millionen Zivilisten und Soldaten.
In Vietnam, wo Panzer wenig ausrichten konnten und die grossen Feldschlachten ausblieben, gehörte die Artillerie zu den wichtigsten Waffen der Amerikaner.
Je stärker der Vietnamkrieg eskalierte, desto besser lief das Schweizer Zündergeschäft. 1968 erreichen die Exporte ihren Höhepunkt. Es war das Jahr der Tet-Offensive und des My-Lai-Massakers und das Jahr, in dem die meisten Amerikaner starben.
Der junge Historiker Christian Schaniel hat sich mit der Schweizer Beteiligung am Vietnamkrieg befasst. Seine Studie ist heute Montag auf Dodis.ch veröffentlicht worden, der Website für diplomatische Dokumente der Schweiz.
Eine Umfrage des «Tages-Anzeigers» bei Vietnamkriegsforschern im angelsächsischen und deutschsprachigen Raum ergab, dass der Export von Schweizer Zündern bis dato unbekannt war.
1969 war der «Tages-Anzeiger» an der Geschichte dran, ein Student belieferte die Zeitung mit Informationen über die Zünderexporte einer Basler Uhrenfabrik. Da sei die Aufregung im Bundeshaus bereits gross gewesen: Der Tagi-Reporter Sepp Moser, heute ein bekannter Aviatikexperte, hatte zuvor aufgedeckt, dass im Vietnamkrieg Pilatus-Flugzeuge zum Einsatz kamen. Zudem war 1968 aufgeflogen, dass Oerlikon-Bührle die Verwaltung mit gefälschten Dokumenten genarrt und Kanonen in Kriegsländer exportiert hatte.
Beim «Tages-Anzeiger» recherchierte Peter Studer zur Zündergeschichte. Der junge Redaktor und spätere Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» und des Schweizer Fernsehens beschäftigte sich schon länger mit dem Vietnamkrieg, wurde jedoch von einem hohen Beamten aus Bern ausgebremst.
Der Chefbeamte Raymond Probst habe Studer und dessen Chefredaktor im August 1969 besucht – und ihnen in einem dreistündigen Gespräch die Geschichte mit den Zündern ausgeredet. Dem gleichen Beamten gelang es später auch, den Bericht eines Genfer Journalisten zu stoppen.
Am Fall der Vietnam-Zünder zeige sich ein bis heute chronisches Dilemma der Schweiz, schreibt Tagi-Redaktor Linus Schöfer, der für das Kultur-Ressort schreibt:
Der Fachbegriff heisse «Dual Use».
Die Geschichte wiederholt sich #Jemen #Saudis #vietnam (Abo+)https://t.co/q1stPMYZyc
— reda el arbi (@redder66) July 8, 2019
Die Schweizer Landesregierung sei sich der Brisanz der Lieferungen dieser Teile bewusst gewesen, schreibt der Historiker. Der Bundesrat habe aus handels- und industriepolitischen Gründen versucht, das Ausmass, wie auch die hauptsächlich militärische Verwendung der Dual-Use-Produkte geheim zu halten.
Die Zulassung der Zünder-Exporte durch die Bundesverwaltung basierte offenbar in erster Linie auf einem wirtschaftlichen Worst-Case-Szenario. Laut Schaniels Studie wurde befürchtet, dass die Amerikaner die 1967 abgeschafften Uhreneinfuhrzölle wieder in Kraft setzen könnten. Dies hätte die Schweizer Unternehmen empfindlich getroffen.
Studie von Christian Schaniel: «Explosive» Exporte in die USA. Schweizer Zahnräder und Getriebe als Zünderbestandteile im Vietnamkrieg 1965–1973. (via dodis.ch)
«The Vietnam War» (2017) – Netflix-Doku: Beim Streaming-Dienst gibts die wohl beste TV-Dokumentation zum Vietnamkrieg. Die Filmemacher Ken Burns und Lynn Novick präsentieren eine 18-stündige, packende Chronik aus der Sicht der Soldaten, Demonstranten, Politiker und Familien.
(dsc)