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Sommaruga zu #Metoo: «Sexismus häuft sich, wo Macht einseitig bei Männern liegt»

Simonetta Sommaruga sagt, der Sexismus höre erst auf, wenn veraltete Strukturen aufbrechen.
Simonetta Sommaruga sagt, der Sexismus höre erst auf, wenn veraltete Strukturen aufbrechen.severin bigler

Sommaruga zu #Metoo: «Sexismus häuft sich, wo Macht einseitig bei Männern liegt»

Bundesrätin Simonetta Sommaruga fordert im grossen Interview mit der «Nordwestschweiz» «endlich» Lohngleichheit und zeigt die Zusammenhänge zwischen Belästigungen und überholten Machtstrukturen auf.
28.12.2017, 04:5929.12.2017, 18:03
Anna Wanner und Jonas Schmid / Nordwestschweiz
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Seit 2010 führt Simonetta Sommaruga das Justizdepartement. Während sie in Migrationsthemen allzu oft von äusseren Umständen getrieben wird, setzt sie in gesellschaftspolitischen Themen eigene Akzente. In ihrem letzten Interview 2017 erklärt sie, wieso es Lohnkontrollen und Frauenquoten braucht, um Sexismus zu bekämpfen.

Frau Bundesrätin, haben Sie über die Festtage Zeit, sich zu entspannen?
Simonetta Sommaruga:
Ja, ich nehme mir ein spannendes Buch statt Akten vor und treffe Freunde, die unter dem Jahr zu kurz gekommen sind. Auch fürs Klavierspielen bleibt mehr Zeit.

Sie sind also festlicher gestimmt als die Zürcher Migrationsbehörden, die kurz vor Weihnachten eine hoch schwangere Eritreerin nach Italien ausschafften?
Ich will mich in den Medien nicht zu Einzelfällen äussern, auch wenn sie mich betroffen machen. Aber ich weiss: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) betrachtet jeden einzelnen Fall sehr genau. Es ist sich bewusst, dass die Entscheide für die Betroffenen von allergrösster Bedeutung sind.

Die Wogen in der Asyl-Debatte haben sich geglättet. Der Fluchtweg über die Türkei ist gesperrt und aus Italien kommen kaum mehr Flüchtlinge zu uns. Stattdessen nehmen wir selektiv verletzliche Personen auf. Ist das umsichtige Asylpolitik?
Eine umsichtige Asylpolitik bedeutet für mich: Die Schweiz gibt jenen Menschen Asyl, die den Schutzauch wirklich brauchen. Und das machen wir. Derzeit kommen tatsächlich nur wenige Asylsuchende übers Mittelmeer nach Italien. In der Schweiz ist die Zahl der Asylgesuche auf dem tiefsten Stand seit 2010. Ein Grossteil der in Libyen gestrandeten Migranten würde in Europa kein Asyl bekommen. Viele sind auf der Suche nach Arbeit. Diese Menschen sind nicht Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention. Wir müssen sie darin unterstützen, in ihre Heimat zurückzukehren, bevor sie bei einer Fahrt übers Mittelmeer ihr Leben riskieren. In Libyen befinden sich aber auch Menschen, die nicht in ihre Heimat zurück können, weil sie dort verfolgt werden. Das sind Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention. Hier müssen wir dafür sorgen, dass die besonders verletzlichen unter ihnen – Frauen, Kinder und ältere Menschen – Schutz in einem sicheren Drittstaat erhalten. Auf Anfrage des UNHCR wird die Schweiz darum 80 besonders verletzliche Flüchtlinge als humanitäre Sofortmassnahme aufnehmen.

Die Situation in Libyen ist ausser Kontrolle: Gangs und Milizen bekämpfen sich. Flüchtlinge werden vergewaltigt und gefoltert. Ist es in diesem Kontext gerechtfertigt, dass die Schweiz die libysche Küstenwache mit Geldern unterstützt?
Wir unterstützen nicht die libysche Küstenwache, sondern die Internationale Organisation für Migration. Mit unserem Geld wird Material für die Seenotrettung finanziert, zum Beispiel Schwimmwesten. Das ist wichtig. Seit Anfang 2016 sind über 7000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Das Schleppergeschäft ist eines der brutalsten Geschäfte überhaupt.

Fast 3000 Migranten sind dieses Jahr im Mittelmeer ertrunken. Von diesen Toten redet kaumjemand. Stumpfen wir ab?
Diese Gefahr besteht. Menschliche Dramen, die sich weit weg abspielen, können wir wohl besser verdrängen. Mitte November habe ich Asylminister aus Afrika und Europa nach Bern eingeladen, weil ich felsenfest davon überzeugt bin, dass wir die Probleme nur gemeinsam anpacken können. Wir können Afrika nicht alleine lassen. Internationale Organisationen wie das IKRK oder UNHCR kämpfen dafür, dass sie Zugang erhalten zu den libyschen Haftzentren und damit an die Menschen herankommen, die dort unter katastrophalen Bedingungen festgehalten werden. Wir müssen uns aber auch bewusst sein: Ohne eine politische Stabilisierung Libyens wird in Nordafrika keine Ruhe einkehren. Hier ist die internationale Staatengemeinschaft gefordert. Mit Migrationspolitik alleine können wir die enormen Herausforderungen nicht lösen. Libyen braucht eine politische Lösung.

«Europa fehlt eine Afrikastrategie. Man macht mit Afrika Geschäfte und ist froh, wenn nicht zu viele Migranten kommen.»

Wie blicken Sie in die Zukunft?
Die Situation in vielen afrikanischen Staaten ist schwierig. Ich war kürzlich in Niger. Das ist eines der ärmsten Länder der Welt. Gleichzeitig nimmt es hunderttausende Flüchtlinge auf. Die Sicherheitslage dort ist besorgniserregend.

Das lässt sich von der Schweiz aus kaum ändern.
Europa fehlt eine Afrikastrategie. Man macht mit Afrika Geschäfte und ist froh, wenn nicht zu viele Migranten kommen. Durch die Destabilisierung des nordafrikanischen Raums – mit all ihren Folgen – ist Europa erwacht.

Erkennen Sie einen Willen Europas, Stabilität herzustellen?
Das Gaddafi-Regime zu stürzen, war eines. Langsam wird sich Europa der humanitären Katastrophe in Libyen bewusst. Die Destabilisierung Nordafrikas hat nicht nur Folgen für west- und zentralafrikanische Staaten, sondern auch für Europa. Seit Jahren pflegt die Schweiz mit Staaten wie Tunesien oder Nigeria Migrationspartnerschaften. Die afrikanischen Staaten müssen wirksame Grenzkontrollen sicherstellen und ein Asylsystem aufbauen. Wir haben dafür im Rückkehrbereich eine gute Zusammenarbeit. Es ist ein Geben und Nehmen auf Augenhöhe. Und unser Ansatz macht Schule: Der Begriff «Migrationspartnerschaft» ist nun auch in Europa angekommen.

Sie haben es angetönt, dass Migration aus Afrika auch mit den Geschäften der internationalen Konzerne zusammenhängt. Bedauern Sie, dass ein Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative gescheitert ist?
Der Bundesrat hat auf einen Gegenvorschlag verzichtet. Das Parlament muss nun selber entscheiden, wie es die Anliegen der Initiative aufnehmen will. Fakt ist: 70 Prozent der Bevölkerung, die in extremer Armut lebt, lebt in rohstoffreichen Ländern. Und diese Länder kommen seit Jahrzehnten wirtschaftlich kaum vom Fleck. Für die Menschen dort bedeutet dies, dass sie in ihrer Heimat keine Perspektiven haben.

Das ist ein Problem dieser Staaten.
Nicht nur. Die Schweiz ist sehr exponiert beim Thema Rohstoffe. Über 500 Rohstofffirmen sind hier angesiedelt. Die Schweiz hat deshalb ein grosses Interesse, dass sich unsere Unternehmen an internationale Standards halten.

Sie unterstützen also das Anliegen der Initianten?
Für den Bundesrat geht die Initiative zu weit. Aber wir beobachten die Entwicklung genau und behalten uns vor, gesetzliche Massnahmen zu prüfen, wenn wir sehen, dass Firmen im Auslandgeschäft Umweltstandards oder Menschenrechte verletzen. Der Bundesrat hat zudem bereits vor drei Jahren eine Antikorruptionsbestimmung für Rohstoff-Förderer vorgeschlagen. Diese Firmen sollen offenlegen, wieviel Geld sie ausländischen Behörden bezahlen. Das ist ein Mittel, um Korruption in diesen Ländern zu bekämpfen. Die lokale Bevölkerung soll wissen, wieviel Geld ihre Regierung mit den Bodenschätzen einnimmt. Die Vorlage ist nun im Parlament.

Es ist doch gar nicht möglich, Transparenz herzustellen.
Es ist eine Herausforderung. Andere Staaten verlangen von ihren Unternehmen aber bereits heute Transparenz und Sorgfalt, wenn es um Umweltstandards und Menschenrechte geht. Die Schweiz darf sich dieser Entwicklung nicht verschliessen – und zwar aus eigenem Interesse. Wenn eine Firma in der Schweiz ihren Sitz hat und vom Image und der Infrastruktur unseres Landes profitiert, dann trägt sie auch Verantwortung für den Ruf unseres Landes.

Sie konnten in diesem Jahr wichtige Projekte abschliessen. Die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) steht kurz vor der Umsetzung. Was erwarten Sie vom Arbeitslosen-Vorrang?
Wir stehen heute an einem ganz anderen Ort als 2014, als die Bevölkerung über die MEI abgestimmt hat. Die Zuwanderung aus EU/EFTA-Staaten ist 2017 so tief wie noch nie seit der Einführung der vollen Personenfreizügigkeit vor 10 Jahren. Zusätzlich tritt im neuen Jahr der Vorrang für Stellensuchende im Inland in Kraft. Er bietet eine gute Möglichkeit, die Zuwanderung indirekt zusteuern. In Branchen mit hoher Arbeitslosigkeit sollen Firmen zuerst in der Schweiz geeignete Arbeitskräfte suchen. Ein Beispiel: Beim Service-Personal hatte die Schweiz letztes Jahr eine Arbeitslosenquote von 10,5 Prozent, was sehr hoch ist. Zugleich haben Unternehmen 9000 Personen im Service-Bereich aus Europa neu rekrutiert. Das verstehen die Leute nicht. Wie gut der Arbeitslosen-Vorrang in der Praxis funktionieren wird, hängt wesentlich von der Bereitschaft der Arbeitgeber ab, Stellensuchenden aus dem Inland eine echte Chance zu geben, bevor sie im Ausland rekrutieren. Gefordert sind auch die regionalen Arbeitsvermittler (RAV). Sie müssen innert kurzer Zeit gute Dossiers zusammenstellen. Ist der Wille bei den Kantonen und den Arbeitgebern vorhanden, können wir auf eine positive Art ein wichtiges Anliegen der MEI aufnehmen.

Wie erklären Sie den Menschen, die Kontingente und Höchstzahlen forderten, dass man jetzt ohne diese Massnahmen einen Rückgang der Zuwanderung erreichen will?
Seit den Siebzigerjahren wird die Zuwanderung durch die Bedürfnisse der Wirtschaft gesteuert. Benötigte die Wirtschaft Arbeitskräfte, hat sie sich diese geholt. Brauchte sie keine, ging die Zuwanderung zurück. Politische Massnahmen wie Kontingente bringen wenig. Die Schweiz hatte früher mit Kontingenten teilweise eine höhere Zuwanderung als heute mit der Personenfreizügigkeit. Da verspreche ich mir vom Arbeitslosenvorrang mehr. Bevor unsere Firmen in Berufen mit hoher Arbeitslosigkeit Personen aus dem Ausland holen, sollen sie sich im Inland umschauen. Das ist ein sinnvoller Ansatz.

«Die Initiative wurde mit klarer Absicht lanciert, die SRG zu zerschlagen.»

Die Debatte um die MEI wurde sehr emotional und gehässig geführt, auch weil die Umsetzung nicht der Verfassung entspricht.
Warum war die Debatte teilweise so gereizt? Weil die Initianten bewusst darauf verzichtet haben, die Kündigung der Personenfreizügigkeit zu verlangen. Denn sonst hätten sie die gesamten bilateralen Verträge mit der EU gefährdet. Stattdessen haben sie der Bevölkerung den Fünfer und das Weggli versprochen: Höchstzahlen und Kontingente für die Zuwanderung, aber auch die Weiterführung der Bilateralen. Meine Erwartung ist, dass die Gegner der bilateralen Verträge bei ihrer nächsten Initiative mit diesem Doppelspiel aufhören. Sie sollen glasklar sagen, was sie wollen. Und dann auch die Konsequenzen akzeptieren.

Kommen wir zu einer anderen Initiative, die zwar nicht in Ihrer Zuständigkeit liegt, aber für hitzige Diskussionen sorgt: Die No-Billag-Initiative. Viele spekulieren darauf, dass das Parlament bei einem Ja eine Lösung für die SRG findet. Wurde mit der MEI ein Präjudiz geschaffen?
Es ist tatsächlich in Mode gekommen, dass Initianten die Bevölkerung auffordern, mit einer Initiative ein Zeichen zu setzen und den Leuten vorgaukeln, dass die Initiative ganz harmlos ist. Sobald die Initiative angenommen ist, fordern die Initianten dann aber eine knallharte Umsetzung mit weitreichenden Konsequenzen. So läuft es derzeit auch bei No-Billag. Ich würde bei der No-Billag-Initiative nicht auf eine «kreative Lösung» spekulieren. Die Initiative wurde mit klarer Absicht lanciert, die SRG zu zerschlagen. Fairerweise müssten die Initianten das auch deutsch und deutlich sagen.

Sie halten die Initiative für gefährlich?
Ja. Wir leben in einer direkten Demokratie, in der die Bevölkerung auf unabhängige Informationen angewiesen ist. Die SRG liefert diese Informationen. Sie lässt alle Seiten zu Wort kommen, kritisiert aber auch alle, auch den Bundesrat und mich. Das ist gut so. Wer Meinungsvielfalt und eine unabhängige Information schätzt, sollte deshalb No-Billag ablehnen.

Sind Sie überrascht, dass eine so radikale Initiative auf so viel Zustimmung stösst?
Ich hoffe einfach, die Bevölkerung ist sich bewusst, was No-Billag bedeuten würde: Es wäre nicht einfach eine kleine Verschiebung innerhalb des Mediensystems, betroffen wäre mit der SRG ein zentraler Pfeiler unseres Landes.

Die SRG ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Gleichzeitig bricht den Privaten das Geschäftsmodell weg. Muss die SRG nicht zurückgestutzt werden?
Bei einem Ja zu No-Billag würde es den privaten Medien nicht besser gehen. Die Werbegelder, die heute zur SRG fliessen, würden nicht einfach auf die Privaten übergehen. Profitieren würden vor allem ausländische Fernsehstationen, nicht Schweizer Zeitungen. Das nützt niemandem in der Schweiz.

Würden Sie bei einem Nein Hand bieten, die SRG zu redimensionieren?
Bundespräsidentin Doris Leuthard hat bereits ein neues Mediengesetz angekündigt und in Aussicht gestellt, dass sich die SRG stärker von den kommerziellen Angeboten unterscheiden soll. Von den Gebühren profitiert aber schon heute nicht nur die SRG. Auch private Radio- und Fernsehstationen erhalten einen Anteil. Sie würden bei einem Ja zu No-Billag arg unter die Räder kommen. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, in welch schwierigen Situation Printmedien heute sind. Das ist aber nicht die Schuld der SRG. Unser Medienkonsum hat sich verändert. Immer weniger Leute abonnieren eine Zeitung. Ich bin deshalb gern bereit, über eine zeitgemässe Form der Unterstützung für die Medien nachzudenken, wenn dies Medienvielfalt und Qualität sichert. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die Medienhäuser untereinander einig sind.

Das heisst, der Staat soll einspringen?
Wir sind erst am Anfang der Diskussion. Deren Ergebnis will ich nicht vorwegnehmen. Die Vorstellungen, wie eine sinnvolle Unterstützung aussehen könnte, gehen noch weit auseinander.

Seit Sie das EJPD übernommen haben, sind Sie eine Reform des Zivil- und Familienrechts nach der anderen angegangen: Unterhalt- und Sorgerecht, Adoptionsrecht, bald steht auch noch das Erbrecht an. Sind die Schweizer Gesetze derart veraltet?
Das Zusammenleben, die Gesellschaft hat sich stark verändert. Noch in meiner Kindheit war Homosexualität ein Tabu. Das Leben im Konkubinat war in manchen Kantonen verboten. Unsere Gesetze waren auf die traditionelle Familie ausgerichtet. Heute kennen wir eine grosse Vielfalt von Formen des Zusammenlebens: Viele Menschen leben im Konkubinat, wir haben alleinerziehende Mütter und Väter, Regenbogen- und Patchwork-Familien. Das Recht muss diese Vielfalt zulassen und abbilden. Wenn das nicht gelingt, leiden die Betroffenen darunter: das Kind oder auch einer der beiden Partner. Deshalb haben wir das Familienrecht in den letzten Jahren Schritt für Schritt dem Alltag der Menschen angepasst.

Wo gibt es noch Handlungsbedarf?
Das Parlament diskutiert derzeit die Ehe für alle. Bereits 15 Länder in Europa haben diese eingeführt.Mir ist in dieser Diskussion eines wichtig: Mit einer Ehe für alle würden wir niemandem etwas wegnehmen. Heterosexuelle Paare können wie bisher heiraten. Neu könnten es aber auch homosexuelle Paare tun.

Die alternierende Obhut erweist sich als Schönwetterkonstrukt. Die Gerichte sprechen die Kinder den Müttern zu. Ist die Schweiz in dieser Beziehung ein rückständiges Land?
Wenn wir die Teilzeitarbeit der Väter anschauen, sind wir tatsächlich rückständig. Wenn ein Kind zur Welt kommt, kümmert sich nach wie vor hauptsächlich die Mutter. Sie arbeitet häufiger Teilzeit. Väter bekommen bei der Geburt nur einen Tag frei. Zum Vergleich: Zum Heiraten sind es zwei. Ob die heutige Situation noch zeitgemäss ist, darüber werden das Parlament und die Bevölkerung noch diskutieren.

«Wenn nur noch eine Frau im Bundesrat sitzt, kann doch niemand sagen, das Gremium bilde die Bevölkerung richtig ab.»

Für die Väter, die von den Gerichten weniger Zeit für die Kinder zugesprochen bekommen, ist das ein schwacher Trost.
Es dauert immer, bis das Recht auch in der Praxis ankommt. Der Gesetzgeber war bei der Frage des gemeinsamen Sorgerechts und der alternierenden Obhut klar: Das Gericht muss schauen, was das Beste für das Kind ist. Und am besten ist nun mal oft ein regelmässiger Kontakt zu beiden Elternteilen. Die Gerichte sollen deshalb bei einer Trennung die alternierende Obhut auch dann prüfen, wenn sich ein Vater vor der Trennung im Alltag nur wenig um das Kind gekümmert hat. Sonst wird ein Mann nach der Trennung einfach zum Zahlvater. Aber die Frage, wer die Kinder betreut, sollte sich eigentlich nicht erst bei einer Trennung stellen. Beim Bund haben wir eine Regelung, dass Väter und Mütter nach der Geburt eines Kindes ihr Pensum um zwanzig Prozent reduzieren, ihre Funktion aber behalten können. Bei der Bundesverwaltung gilt die Ausrede nicht mehr, dass der Mann gerne reduzieren möchte, aber nicht kann.

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Wieso ist dies dann nicht die Regel?
Ich höre einfach oft, dass Väter angeben, sie hätten Angst, benachteiligt zu werden.

Dass sie in ihrer Karriere nicht weiterkommen?
Ja. Aber das ist genau das, was Frauen seit Jahren erleben.

Was ist denn die Lösung?
Wenn Väter einfordern, mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können, heisst das ja nicht, dass sie den Beruf nicht mehr ernst nehmen. Je mehr Väter Teilzeit arbeiten, desto weniger ist es ein Problem.

Die Realität sieht anders aus. Anforderungen an vielen Arbeitsplätzen sind heute so hoch, dass Familie und Beruf nur schwer zu vereinbaren sind.
Wenn eine Person Beruf und Familie alleine unter einen Hut bringen muss, ist das schwierig. Aber auch bei Paaren liegt die Hauptlast meist bei der Mutter. Und es stimmt, die Arbeitswelt ist noch nicht darauf eingestellt, die beiden Aufgaben miteinander in Einklang zu bringen. Dabei funktioniert das bei Abwesenheiten für den Militärdienst auch.

Wenn wir von Gleichberechtigung sprechen. Brauchen Unternehmen Lohnkontrollen?
Der Bundesrat will keine staatlichen Kontrollen. Er setzt auf die Eigenverantwortung der grossen Unternehmen. Diese sollen ihre Löhne selber anschauen und allfällige ungerechtfertigte Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern transparent machen. Seit 36 Jahren steht die Lohngleichheit in der Bundesverfassung. Da können wir nicht akzeptieren, dass Frauen immer noch weniger verdienen, nur weil sie eine Frau sind. Eine Frau verdient heute im Durchschnitt 7000 Franken pro Jahr weniger als ihr männlicher Kollege. Und das bei gleicher Qualifikation und Leistung. Der Bundesrat hat deshalb einen pragmatischen Vorschlag gemacht, der ganz ohne Strafen und Bussen auskommt.

Der Vorschlag ist im Parlament umstritten.
Nach dem Nein der Bevölkerung zur AHV-Reform wird nun hoffentlich niemand im Parlament die Bedeutung der Lohngleichheit unterschätzen. Der Bundesrat will das Rentenalter von Frauen auf 65 Jahre angleichen. Frauen sind jedoch nicht bereit, länger zu arbeiten, wenn sie nicht endlich gleich viel verdienen wie ihre männlichen Kollegen. Das hat die Analyse zur AHV-Abstimmung gezeigt. Darum ist die Lohngleichheit auch für das AHV-Dossier so wichtig.

Das zweite umstrittene Thema ist die Frauenquote.
Die Realität sieht heute so aus: Neun von zehn Geschäftsleitungsmitgliedern der grössten Schweizer Firmen sind Männer. Und wir wissen, dass Männer oft Männer nachziehen, wenn es um Neubesetzungen in den Chefetagen geht. Der Bundesrat will hier ein Umdenken fördern. Deshalb gibt er den grossen Unternehmen Ziele vor – nicht starre Quoten. Wenn die Unternehmen es nach einer Übergangsfrist von 10 Jahren nicht geschafft haben, dass wenigstens 2 von 10 Geschäftsleitungsmitgliedern Frauen sind, sollen sie die Gründe dafür nennen. Strafen oder Bussen gibt es auch hier keine. Der Bundesrat will nur Transparenz schaffen. Wieso das so umstritten ist, ist mir rätselhaft.

Bald sind Sie vielleicht die einzige Frau im Bundesrat.
Ich hoffe nicht, dass es so weit kommt. Der Bundesrat sollte die Bevölkerung abbilden. Das ist der Kerngedanke der Zauberformel. Wenn nur noch eine Frau im Bundesrat sitzt, kann doch niemand sagen, das Gremium bilde die Bevölkerung richtig ab.

Madeleine Albright, die erste US-Aussenministerin, sagte kürzlich auf CNN, sie sei zwar nie sexuell belästigt worden. Doch die unzähligen Male, als sie die einzige Frau im Raum war, habe sie sich viel gefallen lassen müssen. Teilen Sie diese Erfahrung?
Ja, absolut. Wir hatten für eine kurze Zeit im Bundesrat eine Frauenmehrheit. Während dieser Zeit hat sich die Geschlechterfrage kaum je gestellt. Der Umgang zwischen Frauen und Männern wird dann zum Thema, wenn die Frauen in einem Gremium massiv untervertreten sind. Die #MeToo-Debatte ist sehr, sehr wichtig. Aber sie wird an Kraft verlieren, wenn es nicht gelingt, über die tieferen Ursachen zu reden.

Das heisst?
Wenn Frauen für die gleiche Arbeit weniger verdienen als Männer, nur weil sie eine Frau sind, steckt doch letztlich die Aussage dahinter, dass Frauen weniger wert sind. In solch einem Umfeld kommt es viel eher zu Belästigungen. Auch dass Frauen in den Führungsetagen der Wirtschaft kaum vertreten sind, hat einiges mit #MeToo zu tun.

«Die #MeToo-Debatte ist sehr, sehr wichtig. Aber sie wird an Kraft verlieren, wenn es nicht gelingt, über die tieferen Ursachen zu reden.»

Gilt dasselbe für die Politik?
Ja. Wo Geld und Macht einseitig in Männerhand sind, sind Sexismus und Belästigung von Frauen an der Tagesordnung. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern ebenso für die Wirtschaft oder zum Beispiel für die Filmindustrie.

Im Parlament arbeiten starke Frauen, die sich wehren können.
Ja, klar arbeiten dort starke Frauen. Und sie wehren sich ja auch. Doch das braucht Mut. Denn auch ihnen passiert das, was häufig Teil des Sexismus ist: Männer versuchen die Dinge herunterzuspielen, einige machen sich sogar lustig darüber oder man wirft den Frauen vor, sich nicht frühzeitig gewehrt zu haben …

… oder sich aufreizend gekleidet zu haben.
Das ist ein bekanntes Muster. Frauen seien selber schuld an den Übergriffen.

Die SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz hat sich gewehrt, wurde von der eigenen Partei aber zurückgepfiffen und kritisiert. Das entmutigt Frauen, sich öffentlich zu wehren.
Das ist einer der Gründe, warum sich viele Frauen nicht äussern. Sie befürchten, dass sie am Schluss noch angeschuldigt werden. Deshalb müssen wir darüber sprechen, welche Strukturen und Rollenbilder hinter #MeToo stecken.

Frauen der #metoo-Bewegung sind «Person des Jahres»

Video: srf
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113 Kommentare
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atomschlaf
28.12.2017 09:08registriert Juli 2015
"Eine Frau verdient heute im Durchschnitt 7000 Franken pro Jahr weniger als ihr männlicher Kollege. Und das bei gleicher Qualifikation und Leistung."

Genau dieser Mumpitz wurde schon x-fach widerlegt.
Warum wurde da nicht kritisch nachgefragt?
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Haiderfroh
28.12.2017 09:44registriert November 2017
"Sexismus häuft sich, wo Macht einseitig bei Männern liegt" ist eine sexistische Aussage, die jeder Grundlage entbehrt.
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Pirat der dritte
28.12.2017 09:13registriert Februar 2014
Böse Männer versus arme, unterlegene Opfer- Frauen! Diese abstruse Haltung führt zu dieser absurden und überdrehten Metoo - Diskussion. Männer im Familienrecht, Militärdienst, Pensionsalter usw konsequent und per Gesetz zu benachteiligen, ist aber kein Problem. Solange die Frauen die Gleichberechtigung nicht ernst nehmen, werden sie auch nicht mehr gewählt.
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