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Analyse

Warum die Schweiz doch nicht so gut Pandemie kann

2500 5000 7500 10‘000 März April Mai Juni Juli August September Oktober November «Wir möcht e n eine ausserordentliche Lage so lange wie möglich herauszögern.» Alain Berset, 13. März «Wir sind noch nicht mal in der Hälfte des Marathons.» Alain Berset, 27. März «Ich hatte mich geirrt. Es ist alles gut gegangen, die Fallzahlen sind (…) nicht gestiegen, sondern eher noch gesunken.» Maurice Thiriet, 27. Mai «Wir sehen eine Tendenz zu leicht ansteigenden Fallzahlen. Das ist angesichts der Öffnungsschritte nicht ganz unerwartet.» Stefan Kuster, 25. Juni «Wir können eine zweite Welle abwenden..» Martin Ackermann, 20. September «Die Lage ist im Griff, aber ernst.» Alain Berset, 9. Oktober «Nein, ich sehe noch keine zweite Welle.» Marcel Salathé, 8. Oktober «Unser Ziel: die Situation wieder unter Kontrolle bekommen. Alain Berset, 18. Oktober «Wenn es so weitergeht, wären die Akutbetten in 15 Tagen, die Intermediate-Care-Betten in 11 Tagen und die Intensivbetten in 10 Tagen vollständig belegt.» Andreas Stettbacher, 27. Oktober «Die Massnahmen zeigen leichte Wirkung … Die Taskforce hat keine Hinweise, dass die Massnahmen genug sind.. Martin Ackermann, 6. November «Entwicklung der letzten Tage ist ermutigend», viel mehr aber nicht..» Alain Berset, 9. Oktober Ausserordentliche Lage Besondere Lage Neu gemeldete Corona- Fallzahlen pro Tag Vom 19. März bis 18. Juni. In dieser Zeit galten zeitweise die schärfsten Massnahmen (Schliessung von Läden, Coiffeure, Restaurants/Nachtclubs, Schulen). Gilt seit 19. Juni. Maskenpflicht im öV ab dem 6. Juli. Verschärfte Massnahmen ab Mitte Oktober, darunter weitere Versammlungsbeschränkungen ab Ende Oktober und erweiterte Maskenpflicht
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Analyse

Warum die Schweiz doch nicht so gut Pandemie kann

Die gesellschaftliche Ordnung in der Schweiz hat in vielen Bereichen Vorteile. In einer Pandemie aber nicht. Das müssen wir akzeptieren.
19.11.2020, 05:5304.02.2021, 19:13
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«Wir sind noch nicht mal in der Hälfte des Marathons», sagte Bundesrat Alain Berset am 27. März dieses Jahres – und ahnte nicht, was noch auf ihn zukommen wird. Ein Jahr ist es her, seit in China der erste Sars-CoV-2 Fall vermeldet wurde. Damals wussten wir noch nicht, in welche Krise die Schweiz, Europa und die ganze Welt durch dieses neuartige Virus gestürzt würde. Seither wurden Entscheide getroffen – und rückgängig gemacht, Expertenmeinungen verfasst – und revidiert, Schlagzeilen gesetzt – und abgeändert.

Es waren Bilder von mit Särgen vollgestellten Kirchen in Norditalien und Leichen-Kühllastwagen in New York, die uns im Frühling aufgeschreckt haben. In diesen von Angst und Unsicherheit geprägten Zeiten übernahm der Bundesrat das Ruder und lieferte der Volksseele strenge Voten. «Eigenverantwortung» lautete das häufig wiederholte Mantra der Landesregierung. Wenn jetzt alle am selben Strick ziehen, schaffe es die Schweiz unbeschadet durch die Krise.

2500 5000 7500 10‘000 März April Mai Juni Juli August September Oktober November «Wir möcht e n eine ausserordentliche Lage so lange wie möglich herauszögern.» Alain Berset, 13. März «Wir sind noch nicht mal in der Hälfte des Marathons.» Alain Berset, 27. März «Ich hatte mich geirrt. Es ist alles gut gegangen, die Fallzahlen sind (…) nicht gestiegen, sondern eher noch gesunken.» Maurice Thiriet, 27. Mai «Wir sehen eine Tendenz zu leicht ansteigenden Fallzahlen. Das ist angesichts der Öffnungsschritte nicht ganz unerwartet.» Stefan Kuster, 25. Juni Ausserordentliche Lage Besondere Lage Neu gemeldete Corona- Fallzahlen pro Tag

Die Bevölkerung hielt sich daran – solange der Bundesrat durch seine Notrechtsmassnahmen während des Lockdowns aufzeigte, wie ernst die Lage war. Sogar so gut, dass die Schweiz im Frühling für ihre erfolgreiche Pandemiebewältigung gelobt wurde.

Dann kollidierte das Krisenmanagement mit dem Schweizer Demokratieverständnis.

In einer auf individuelle Freiheit getrimmten Gesellschaft scheint eine zielgerichtete Pandemiebekämpfung eine Machbarkeitsillusion.

Die Kantone verlangten ihre Kompetenzen zurück. Ökonominnen, Mediziner, Forscher und Wissenschaftlerinnen lieferten sich einen täglichen Deutungsstreit über steigende Infektionszahlen. Die Politik sah sich konfrontiert mit den Interessen von Coiffeursalon-Betreiber, Eventveranstalter und der Bevölkerung, die sich den Badisommer keinesfalls nehmen lassen wollte.

Jeder wollte seines eigenen Glückes Schmid sein – was wenig überrascht. Schliesslich baut die Schweizer Demokratie darauf auf, dass jede und jeder mit seinem Partikularinteresse berücksichtigt werden will und soll. Womit der Grundkonflikt deutlich wurde.

In autoritär regierten, asiatischen Gesellschaften hat jeder einzelne für die Gemeinschaft die Verantwortung zu übernehmen. Ein Modell, das bei der Krisenbewältigung funktioniert. So hat China das Virus ein Jahr nach Ausbruch weitgehend im Griff. Anders in der Schweiz, wo hinter jedem Akteur eine Lobby, hinter jeder Aussage ein Interesse steht. In einer auf individuelle Freiheit getrimmten Gesellschaft scheint eine zielgerichtete Pandemiebekämpfung eine Machbarkeitsillusion.

2500 5000 7500 10‘000 März April Mai Juni Juli August September Oktober November «Wir können eine zweite Welle abwenden..» Martin Ackermann, 20. September «Die Lage ist im Griff, aber ernst.» Alain Berset, 9. Oktober «Nein, ich sehe noch keine zweite Welle.» Marcel Salathé, 8. Oktober «Unser Ziel: die Situation wieder unter Kontrolle bekommen. Alain Berset, 18. Oktober «Wenn es so weitergeht, wären die Akutbetten in 15 Tagen, die Intermediate-Care-Betten in 11 Tagen und die Intensivbetten in 10 Tagen vollständig belegt.» Andreas Stettbacher, 27. Oktober «Die Massnahmen zeigen leichte Wirkung … Die Taskforce hat keine Hinweise, dass die Massnahmen genug sind.. Martin Ackermann, 6. November «Entwicklung der letzten Tage ist ermutigend», viel mehr aber nicht..» Alain Berset, 9. Oktober Ausserordentliche Lage Besondere Lage Neu gemeldete Fallzahlen pro Tag

In diesem Kontext ist es wenig erstaunlich, dass der ehemalige Mister Corona Daniel Koch Widersprüchlichkeiten zur Maskenfrage aneinanderreihte. Oder die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli auch im September partout nicht zugeben wollte, dass das Contact Tracing längst an die Grenzen gestossen war.

Die Kakophonie der interessengetriebenen Akteuren in dieser Krise führt dazu, dass wir die Pandemie schlechter bewältigen, als dass wir uns gewohnt sind. Die hiesige gesellschaftliche Ordnung hat in vielen Bereichen Vorteilen – diesmal aber nicht. Das müssen wir akzeptieren.

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152 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Zeit_Genosse
19.11.2020 06:45registriert Februar 2014
Man darf hier die 4. Gewalt nicht ausnehmen. Sie profitierte von diesem Ereignis bezüglich Aufmerksamkeit beispiellos. Doch überall wurden Experten hervorgezaubert und gab allen eine Stimme um ein chaotisches Gesamtbild zu zeichnen. Der BR wurde medial nicht gestärkt, als solidarischer Akt, um eine Landeskrise besser zu stemmen, sondern suchte viele neue Stimmen und bolzte Quote. Das mangelnde Bewusstsein, auch etwas beizutragen und die eigenen Interessen etwas zurückzufahren, darf auch kritisch erwähnt werden. Die so wichtigen Medien müssen eingestehen, dass sie Pandemie auch nicht können.
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Töfflifahrer
19.11.2020 06:21registriert August 2015
Ja, wir können es wirklich nicht. Ich denke jedoch, dass der Grund nicht grundsätzlich bei unserem Lebensverständnis und dem Föderalismus an sich zu suchen ist. Vielmehr hat Corona aufgezeigt, dass unser Parlament und die Mehrzahl der Kantonsverantwortlichen zuerst an ihre Klientel denken und nicht fähig oder willens sind, zum Wohle des Gesamten zu agieren.
Kantonsärzte, die Covid-19 nicht ernst nehmen und die Bekämpfung sogar behindern, Kantonsregierungen, die keine Massnahmen umsetzen wollen, solange der Bund nicht zahlt.
So sieht es heute leider aus.
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KarlWeber
19.11.2020 07:44registriert März 2017
Ein weiteres Problem dieser Pandemie: Journalisten welche sie aufgrund von was weis ich wie aussagekräftigen Zahlen beurteilen.
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Koch packt aus: «Keiner meiner Freunde aus der Berufsschule arbeitet noch auf dem Beruf»

Der Stress begann bereits in meiner ersten Arbeitswoche: Ich musste während sechs Tagen 60 Stunden arbeiten. Damals war ich 15 Jahre alt. Aber ich muss sagen, irgendwie fand ich es cool. Es war alles so aufregend – eine neue, absurde Welt. Obwohl ich so viel arbeiten musste, machte es mich glücklich. Zunächst.

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