«Wir sind noch nicht mal in der Hälfte des Marathons», sagte Bundesrat Alain Berset am 27. März dieses Jahres – und ahnte nicht, was noch auf ihn zukommen wird. Ein Jahr ist es her, seit in China der erste Sars-CoV-2 Fall vermeldet wurde. Damals wussten wir noch nicht, in welche Krise die Schweiz, Europa und die ganze Welt durch dieses neuartige Virus gestürzt würde. Seither wurden Entscheide getroffen – und rückgängig gemacht, Expertenmeinungen verfasst – und revidiert, Schlagzeilen gesetzt – und abgeändert.
Es waren Bilder von mit Särgen vollgestellten Kirchen in Norditalien und Leichen-Kühllastwagen in New York, die uns im Frühling aufgeschreckt haben. In diesen von Angst und Unsicherheit geprägten Zeiten übernahm der Bundesrat das Ruder und lieferte der Volksseele strenge Voten. «Eigenverantwortung» lautete das häufig wiederholte Mantra der Landesregierung. Wenn jetzt alle am selben Strick ziehen, schaffe es die Schweiz unbeschadet durch die Krise.
Die Bevölkerung hielt sich daran – solange der Bundesrat durch seine Notrechtsmassnahmen während des Lockdowns aufzeigte, wie ernst die Lage war. Sogar so gut, dass die Schweiz im Frühling für ihre erfolgreiche Pandemiebewältigung gelobt wurde.
Dann kollidierte das Krisenmanagement mit dem Schweizer Demokratieverständnis.
In einer auf individuelle Freiheit getrimmten Gesellschaft scheint eine zielgerichtete Pandemiebekämpfung eine Machbarkeitsillusion.
Die Kantone verlangten ihre Kompetenzen zurück. Ökonominnen, Mediziner, Forscher und Wissenschaftlerinnen lieferten sich einen täglichen Deutungsstreit über steigende Infektionszahlen. Die Politik sah sich konfrontiert mit den Interessen von Coiffeursalon-Betreiber, Eventveranstalter und der Bevölkerung, die sich den Badisommer keinesfalls nehmen lassen wollte.
Jeder wollte seines eigenen Glückes Schmid sein – was wenig überrascht. Schliesslich baut die Schweizer Demokratie darauf auf, dass jede und jeder mit seinem Partikularinteresse berücksichtigt werden will und soll. Womit der Grundkonflikt deutlich wurde.
In autoritär regierten, asiatischen Gesellschaften hat jeder einzelne für die Gemeinschaft die Verantwortung zu übernehmen. Ein Modell, das bei der Krisenbewältigung funktioniert. So hat China das Virus ein Jahr nach Ausbruch weitgehend im Griff. Anders in der Schweiz, wo hinter jedem Akteur eine Lobby, hinter jeder Aussage ein Interesse steht. In einer auf individuelle Freiheit getrimmten Gesellschaft scheint eine zielgerichtete Pandemiebekämpfung eine Machbarkeitsillusion.
In diesem Kontext ist es wenig erstaunlich, dass der ehemalige Mister Corona Daniel Koch Widersprüchlichkeiten zur Maskenfrage aneinanderreihte. Oder die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli auch im September partout nicht zugeben wollte, dass das Contact Tracing längst an die Grenzen gestossen war.
Die Kakophonie der interessengetriebenen Akteuren in dieser Krise führt dazu, dass wir die Pandemie schlechter bewältigen, als dass wir uns gewohnt sind. Die hiesige gesellschaftliche Ordnung hat in vielen Bereichen Vorteilen – diesmal aber nicht. Das müssen wir akzeptieren.
Expertin der Task Force: «Wir setzen jetzt den Sommer aufs Spiel»
Der Bundesrat lockert am Montag in diversen Bereichen. Wir haben mit Tanja Stadler von der Science Task Force gesprochen und versucht, auch etwas in die Zukunft zu schauen.
Die Wissenschaft ist mit den vom Bundesrat beschlossenen Lockerungen nicht einverstanden. In der Science Task Force kam es gar zu einem weiteren Abgang. Dominique de Quervain verlässt die Expertengruppe, wegen des «politischen Korsetts».
Auch Tanja Stadler, welche bei der Task Force die Expertengruppe Data and Modelling leitet, ist wenig erfreut über die Lockerungsschritte. Wir haben mit Ihr über die aktuelle Lage in der Schweiz und die kommenden Wochen gesprochen.