Letzte Woche erhielt ich in meiner privaten Mailbox eine Nachricht von einer Person aus dem familiären Umfeld. «Bitte stimmt JA zur Konzernverantwortungsinitiative», lautete die Message. Die Person war in der Seelsorge der katholischen Kirche tätig, aber eine derart direkte Aufforderung zu einer Abstimmung habe ich von ihr noch nie bekommen.
Im Ringen um die Konzerninitiative mag dies eine Randnotiz sein. Sie ist aber typisch für die Emotionalität, mit der auf beiden Seiten gekämpft wird. Knapp zwei Wochen vor der Abstimmung «liegen die Nerven blank», stellten die Tamedia-Zeitungen fest. Befürworter und Gegner gehen mit harten Bandagen und viel Geld aufeinander los.
Seit der SVP-Durchsetzungsinitiative vor bald fünf Jahren hat die Schweiz keinen derart emotionalen Abstimmungskampf erlebt. Die Intensität der DSI mag die KVI nicht erreichen, aber mit Attacken auf persönlicher Ebene und rabiater Sprache werden Grenzen nicht tangiert, sondern überschritten. Tamedia diagnostizierte eine «entgleiste Kampagne».
So kursieren im Netz Videos unbekannter Herkunft, in denen die Initianten als «linke Krawallanten» verunglimpft werden. Auch Finanzminister Ueli Maurer teilte im «SVP bi de Lüüt»-Videochat gegen die KVI aus, die gar nicht in seine Zuständigkeit fällt. «Bei der Arroganz, die hinter dieser Initiative steckt, wird mir fast schlecht», schimpfte Maurer.
Das Engagement kirchlicher Kreise in Sachen KVI sorgt ebenfalls für rote Köpfe und weiche Knie. Die Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons Nidwalden stellte letzte Woche den für ihr Mitteilungsblatt verantwortlichen Redaktor fristlos frei. Er wollte in der aktuellen Ausgabe der «Kirchen-News» kontradiktorisch über die Konzerninitiative berichten.
Die Jungfreisinnigen haben in mehreren Kantonen eine Stimmrechtsbeschwerde gegen die ihrer Ansicht nach verfassungswidrige Pro-Kampagne der Landeskirchen eingereicht. Zum Inhalt äussern sie sich nicht, doch im Aargau verlangen sie laut der «Aargauer Zeitung» nichts weniger als die Aufhebung eines allfälligen Ja-Resultats am 29. November.
Die Befürworter sind auch keine Kinder von Traurigkeit. Die Operation Libero etwa lässt es verbal krachen: «Wer ernsthaft und ohne mit der Wimper zu zucken der Ansicht ist, griffige Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden seien unnötig oder extrem, kann in unseren Augen nur eines sein: ein Halunke.»
Die Initianten wiederum wettern im neuesten «Bettel-Flyer» gegen «skrupellose Konzerne wie Glencore», die «für ihre Machenschaften geradestehen müssen». Der von ihnen produzierte «Dokumentarfilm» ist mehr Propaganda als objektive Information. Ihre auf die Tränendrüse zielenden Plakatsujets mit Kindern sind Fotomontagen.
Die Verlage Tamedia und Ringier prüfen rechtliche Schritte gegen das Initiativkomitee. Es habe Interviews mit KVI-Vorkämpfer Dick Marty in der «Schweizer Illustrierten» und «Le Matin Dimanche» auf einem Flyer widerrechtlich und irreführend verwendet. Zumindest im Fall der Westschweizer Zeitung räumen die Initianten einen Fehler ein.
Heftig zur Sache geht es auch in der Echokammer namens Twitter, obwohl ein breites Publikum dort nicht erreichbar ist. Dafür verantwortlich ist in erster Linie die Tatsache, dass die Initiative Menschenrechte und Umweltschutz in den Fokus rückt, zwei moralisch aufgeladene Themen. Darüber hinaus lassen sich drei weitere Gründe für die Emotionalität ausmachen:
#CHvote #Abst20 #KVI #UVI
— Claude Longchamp (@claudelongchamp) October 23, 2020
Zustimmungsmehrheit gemäß @SRGSSR Umfrage von 63% zu 33%. Nein-Mehrheiten bei FDP- resp. SVP-Wählenden. Der Kampf um die gespaltene Mitte ist eröffnet.@gfsbern @SRF pic.twitter.com/dbbg612RO7
In der ersten Tamedia-Umfrage kam die Konzerninitiative Mitte Oktober auf 57 Prozent Ja. So weit, so normal für ein linkes Volksbegehren. Ungewöhnlich ist jedoch, dass die Zustimmung nicht abgenommen hat. In der zweiten Tamedia-Umfrage blieb sie gleich hoch, und in der ersten SRG-Trendumfrage erreichte die KVI sogar 63 Prozent Ja.
Auffällig ist auch der geringe Anteil der Unentschlossenen. Das macht die Gegner nervös und erklärt ihre Hektik. So sind in den letzten Tagen mehrere ganzseitige Nein-Inserate in den Zeitungen erschienen, am Wochenende eines der Grossbank Credit Suisse, die wegen Investitionen in fossile Energien am Klima-Pranger steht.
Den Initianten ist gelungen, was die SVP bei der Durchsetzungs-Initiative nicht geschafft hatte: Sie agieren im Kampf um die Deutungshoheit auf Augenhöhe mit dem Nein-Lager. Tatsächlich war noch keine Initiative aus der linken Ecke derart breit abgestützt. Sie wird von Unternehmern und bürgerlichen Persönlichkeiten mitgetragen.
Verblüffend ist auch die Tonalität der Kampagne. «Früher wollten die Linken lieber in Schönheit untergehen als auch mit emotionalen Mitteln zu kämpfen», sagte der Werber Lorenz Spinas der «NZZ am Sonntag». Kritik an Manipulationen nimmt er in Kauf: «Wir müssen zuspitzen und emotionaler werden, aus Verantwortung für den Zweck und das Ziel, das wir erreichen wollen.»
Vielleicht noch wichtiger ist ein Faktor, den die Wissenschaft als «Ökonomie der Aufmerksamkeit» bezeichnet. Sie besagt, dass die Aufmerksamkeit der Menschen in der heutigen schnelllebigen Welt ein knappes Gut ist. So stand die KVI in den Medien zuletzt in Konkurrenz zu zwei Megathemen: der zweiten Corona-Welle und den US-Wahlen.
In «normalen» Zeiten nehmen solche Ereignisse die Aufmerksamkeit vielleicht ein paar Tage in Anspruch. Corona jedoch erzeugt seit Monaten einen Ausnahmezustand, der auch den Abstimmungskampf stark einschränkt. Weshalb beide Seiten eine Art Lautstärke-Wettbewerb austragen, um die «abgelenkten» Stimmberechtigten für sich zu gewinnen.
Er dürfte sich im Endspurt verschärfen. Denn am Mittwoch erscheinen die letzten Umfragen von SRG und Tamedia. Dann wird sich zeigen, ob der Ja-Trend sich verfestigt. Eine Annahme der Konzernverantwortungs-Initiative, die auch der watson-Autor im Oktober noch für wenig wahrscheinlich hielt, wäre auf einmal ein realistisches Szenario.