Einen solchen Absturz hat es in der Schweizer Parteiengeschichte selten gegeben. Bei den Wahlen ins Neuenburger Kantonsparlament am Sonntag verlor die SVP mehr als die Hälfte ihrer Sitze. Ihre drei Bewerber für die Kantonsregierung waren im ersten Wahlgang chancenlos. Der Neuenburger Nationalrat Raymond Clottu reagierte bestürzt: «Ich stehe unter Schock.»
Von der SVP war man sich ähnliche Ausschläge bislang nur in die Gegenrichtung gewohnt. Seit die Blocher-Partei nach dem EWR-Nein vor 25 Jahren ihren Siegeszug angetreten hat, gab es für sie scheinbar nur eine Richtung: Nach oben. Aus dem einstigen «Juniorpartner» im bürgerlichen Lager wurde die mit Abstand stärkste Partei der Schweiz. Bei den nationalen Wahlen 2015 kam sie auf 29,4 Prozent, das beste Ergebnis einer Partei seit Einführung der Proporzwahl 1919.
Den historischen Erfolg hat die Volkspartei nicht nur aus eigener Kraft errungen. Sie verdankte ihn auch der geopolitischen Grosswetterlage, genauer der Flüchtlingskrise in Europa. Sie verstärkte die isolationistischen Reflexe in der Schweiz, was sich auch darin äusserte, dass die bilateralen Verträge mit der EU in Umfragen an Rückhalt verloren. Die SVP konnte profitieren.
Die Erwartung oder Befürchtung, der Rechtsrutsch (auch die FDP legte zu) werde die Schweizer Politik verändern, hat sich erfüllt – aber anders als erwartet. Er hat in der Gesellschaft Abwehrreflexe geweckt. Für die SVP sind die Erfolgsmeldungen seit dem Wahlsieg rar geworden, dafür häufen sich die Pleiten. Die Partei ist auf mehreren Ebenen mit Problemen konfrontiert.
Das Neuenburger Debakel ist in erster Linie hausgemacht. Der frühere Nationalrat Yvan Perrin – ein einstiger SVP-Hoffnungsträger in der Romandie – war 2013 in die Kantonsregierung gewählt worden. Nur eineinhalb Jahre später musste er mit einem Burnout zurücktreten, seinen Sitz schnappte sich die FDP. Formal ist Perrin immer noch Präsident der Kantonalpartei, faktisch ist die Neuenburger SVP führungslos. Auch die Querelen um Jean-Charles Legrix, der als Stadtrat von La Chaux-de-Fonds erst entmachtet und dann abgewählt wurde, haben ihr geschadet.
Das Problem aber reicht tiefer. Der positive Effekt, den die Wahl des Waadtländers Guy Parmelin in den Bundesrat auslösen sollte, ist bislang ausgeblieben. Vielmehr erlebte die SVP mit der Abwahl von «Skandalnudel» Oskar Freysinger aus der Walliser Regierung einen weiteren Tiefschlag. Er war faktisch das «Gesicht» der SVP in der Westschweiz, insbesondere während der Präsidentschaft von Toni Brunner, der kaum einen geraden Satz auf Französisch herausbringt.
Nun ist die SVP in der Westschweiz in keiner Kantonsregierung mehr vertreten, sofern man den Bernjurassier Pierre Alain Schnegg nicht mitzählt. In der Waadt soll sich das am 30. April ändern, die SVP will den nach dem Tod von Jean-Claude Mermoud 2011 verlorenen Sitz mit Nationalrat Jacques Nicolet zurückerobern. Doch die Waadtländer SVP ist angeschlagen, seit der nationale Romandie-Koordinator und Partei-Vize Claude-Alain Voiblet vor einem Jahr aus der Partei geworfen wurde. Er hatte im Wahlkampf 2015 Plakate von Parteikollegen mit eigenen überklebt.
Seit den Wahlen haben die Fraktionen von SVP und FDP im Nationalrat mit 101 Sitzen die absolute Mehrheit. Bewirkt hat sie wenig, im Gegenteil. Die SVP hat bei wichtigen Geschäften im Parlament schmerzhafte Niederlagen kassiert, insbesondere bei der Umsetzung ihrer Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) und bei der Altersvorsorge 2020.
An der Urne ist ihre Bilanz nicht besser: Bei bedeutenden Abstimmungsvorlagen stand die SVP auf der Verliererseite. Gleich drei Niederlagen kassierte sie in ihrem «Kerngeschäft». Die Durchsetzungs-Initiative, das Referendum gegen das revidierte Asylgesetz und der Kampf gegen die erleichterte Einbürgerung von Ausländern der dritten Generation gingen verloren. Besonders bitter für die SVP: Die Pleiten fielen nicht etwa knapp aus, sondern deutlich.
Der Kampfbegriff «Verfassungsbruch», mit dem sie die MEI-Umsetzung bezeichnet, scheint ebenfalls nicht richtig zu zünden. Und neues Ungemach zeichnet sich ab. 2017 wird über zwei weitere grosse Vorhaben abgestimmt: Die Energiestrategie 2050 am 21. Mai und die Altersvorsorge 2020 am 24. September. Beide werden von der SVP bekämpft. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie in beiden Fällen erneut auf der Verliererseite stehen wird.
Die Wahlen spülten einige illustre Figuren ins Parlament, allen voran Roger Köppel und Christoph Blochers Tochter Magdalena. Eine Personalie gibt immer wieder zu reden: Andreas Glarner. Der Aargauer Nationalrat wurde auf Anhieb zum Verantwortlichen für die Asylpolitik ernannt. Seine Devise lautet: Maximale Provokation bis an die Grenze des Erlaubten.
Damit hält er den rechten Rand der SVP-Wählerschaft bei Laune. In der Mitte der Gesellschaft aber stösst seine Masche auf Ablehnung. Glarners Strategie, die erleichterte Einbürgerung mit Burka-Plakaten zu bekämpfen, wurde laut der Tamedia-Nachbefragung sogar von einem Teil der eigenen Basis nicht goutiert. Auch in der SVP-Fraktion ist sein Stil umstritten.
Die «Weltwoche» hat Anfang März ein kritisches Porträt über Andreas Glarner veröffentlicht, mit – anonymen – Voten aus den eigenen Reihen. Für SVP-Politiker ist es nie ein gutes Zeichen, wenn sie vom Köppel-Blatt ins Visier genommen werden. Glarner reagierte entsprechend verärgert.
Nicht alles ist in den letzten Monaten schief gelaufen. Im Glarner-Kanton Aargau eroberte die SVP mit der zuvor kaum bekannten Bezirksrichterin Franziska Roth einen zweiten Sitz im Regierungsrat. Auch in den Kantonsparlamenten legt sie tendenziell weiter zu, das Neuenburger Debakel ist ein «Ausreisser». Aber die Zeit der grossen Sprünge nach oben ist vorbei.
Bislang haben Niederlagen und Rückschläge wie Christoph Blochers Abwahl aus dem Bundesrat die SVP nur stärker gemacht. Die Misserfolge der letzten Monate aber sind ein neues Phänomen. «Die Form der SVP spüre ich in der Tendenz negativ, das müssen wir korrigieren», sagte Parteipräsident Albert Rösti dem Sonntags-Blick. Der Berner kritisierte insbesondere die aus seiner Sicht ungenügende Mobilisierung in den Kantonen Solothurn, Basel-Stadt, Freiburg und Wallis.
Hat der Erfolg die SVP träge gemacht? Haben die «Antikörper», die mit dem Kampf gegen die Durchsetzungs-Initiative geweckt wurden, eine nachhaltige Wirkung? Ist es mit dem angeblich konservativen Trend in der Gesellschaft gar nicht so weit her, wird das Schweizer Stimmvolk im Gegenteil offener und multikultureller? Oder ist die SVP einfach in einem Formtief?
Eine klare Antwort gibt es nicht. Ein Verlierer-Image aber ist nie gut für eine Partei – man frage nur die CVP. Für die Schweizerische Volkspartei, die sich permanent auf den Volkswillen bezieht, ist es besonders gefährlich. Sie lebt von der Empörung und der Angst, die sie in den Medien und bei der Konkurrenz erzeugt. Setzt sich die Niederlagenserie fort, schwindet dieses Drohpotenzial.
Die SVP könnte dann etwas werden, was sie keinesfalls sein will: Eine ganz gewöhnliche Partei.