Nach dem Nein zur Konzernverantwortungsinitiative (KV) gehen die Wogen bei den Befürwortern hoch. Der Grund ist klar: Es haben mehr stimmberechtigte Personen für als gegen die Initiative gestimmt. Trotzdem wurde sie abgelehnt. Die KVI scheiterte am Ständemehr. Das ist ein historisches Ereignis: Erst ein einziges Mal passierte das bei einer Volksinitiative, und zwar vor 65 Jahren. 1955 widerfuhr der Mieter- und Konsumentenschutzinitiative des Gewerkschaftsbundes das gleiche Schicksal.
Verständlich, dass sich die Befürworter nun ärgern. «Das Ständemehr gehört auf den Müllhaufen der Geschichte», schrieb etwa Juso-Präsidentin Ronja Jansen auf Twitter und löste damit eine Welle an Reaktionen aus.
Das Ständemehr gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. #KVI #abst20
— Ronja Jansen (@RonjaJansen) November 29, 2020
Doch wieso gibt es das Ständemehr überhaupt? Und was bedeutet das für unsere Abstimmungen? Eine Übersicht.
Die Schweiz ist kein Einheitsstaat, sondern ein föderalistischer Staat, ein Bund aus Kantonen. Um eine nationale Abstimmung zu gewinnen, braucht es nicht nur eine Mehrheit an individuellen Stimmen, sondern auch eine Mehrheit an Kantonen, dessen Bevölkerungen mehrheitlich Ja gestimmt hat.
Auf diese Weise soll vor allem die ländliche Bevölkerung vor der Übermacht der bevölkerungsreichen Kantone geschützt werden. Diese Regelung privilegiert die Landbevölkerung der personenarmen Kantone, da ihre Stimmen damit mehr Gewicht erhalten.
Erfahrungsgemäss stimmen Stadt und Land unterschiedlich ab. In den Städten wird meist politisch links gewählt, in ländlichen Gebieten eher bürgerlich.
Die Frage nach dem Ständemehr stellt ein Dilemma dar, das sich nicht lösen lässt. Denn entweder entscheidet eine Mehrheit über eine Minderheit, oder eine Minderheit über eine Mehrheit. So wäre es der Deutschschweiz mit über 70 Prozent der Bevölkerung ein Leichtes, anderssprachige Kantone und ihre Interessen zu überstimmen.
Es bedeutet, dass das Sprichwort «eine Person, eine Stimme» in der Schweiz nicht wirklich der Realität entspricht. So wird eine Stimme aus dem Kanton Appenzell-Innerrhoden 39,41 Mal stärker gewichtet als eine aus Zürich. Das gleiche Phänomen lässt sich in allen bevölkerungsarmen Kantonen beobachten.
Theoretisch heisst das auch, dass lediglich 9 Prozent aller Schweizer Stimmberechtigten eine Initiative zu Fall bringen könnten. Dann nämlich, wenn die Hälfte der 11,5 bevölkerungsärmsten Kantone der Schweiz eine Vorlage ablehnt.
Schaut man sich die Abstimmung zur KVI an, lassen sich weitere Zahlenspielerein machen. So hätte es in den Kantonen Glarus (609), Appenzell-Innerrhoden (1486), Schaffhausen (1832) und Uri (2030) insgesamt nur 5957 Stimmen gebraucht, um die Stände zu drehen und damit das Ständemehr auf nationaler Ebene zu erreichen. Zum Vergleich: 37'500 Personen mehr haben Ja gesagt zur KVI.
Den urbanen Zentren der Schweiz ist diese Ungerechtigkeit schon lange ein Dorn im Auge. So geisterte die Frage nach städtischen Halbkantonen in Zürich, Luzern oder Bern bereits einige Male durch die Politwelt.
Zu einer Abschaffung des Ständemehrs wird es indes wohl nie kommen: Denn eine Abstimmung darüber würde wahrscheinlich am Ständemehr scheitern.
Was mich allerdings erstaunt ist, dass genau diese Kreise, die sich ansonsten für alle Minderheiten, Randgruppen usw. gendern, ehhhh engagieren, das Ständemehr nun entsorgen wollen...
Und man wundert sich, dass diesen Kreisen die einstige Basis weggebrochen ist und nun eine andere Klientel bedient wird.