Schulterschluss ade: Die Fraktionschefs Thomas Aeschi (SVP), Beat Walti (FDP) und Tiana Moser (GLP) am 26. März unterwegs zum Hearing mit dem Bundesrat. Bild: KEYSTONE
Bei der Verhängung des Corona-Lockdowns standen die Parteien geeint hinter dem Bundesrat. Kaum entspannt sich die Lage ein wenig, kehrt der Streit zurück, auch weil der Bundesrat patzt.
An jenem 16. März, an dem der Bundesrat die Schweiz mit Notrecht in den Stillstand versetzte, kam es zu einem denkwürdigen Schulterschluss. Alle grösseren Parteien stellten sich «vereint und vorbehaltslos» hinter die Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus, getreu dem Motto «Unus pro omnibus omnes pro uno» (einer für alle, alle für einen) in der Bundeshaus-Kuppel.
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Etwas mehr als einen Monat später kann man feststellen: Die Einigkeit ist definitiv Geschichte. Kaum soll der Lockdown gelockert werden, streiten die Parteien über den Zeitplan und das Ausmass. Das ist einerseits eine logische Folge davon, dass das Schlimmste verhindert wurde und die Lage sich langsam entspannt. Notrecht bedeutet zudem nicht das Ende der Demokratie.
Der Bundesrat hat seinen Teil zum Parteienstreit beigetragen. Er hat die vorsichtige Öffnung des Landes in verschiedenen Bereichen (Masken, Kinder, Ladenöffnungen) holprig bis widersprüchlich kommuniziert. Damit hat er nicht nur die betroffenen Branchen verärgert und viele verunsichert, sondern auch den streitlustigen Parteipolitikern einen Steilpass zugespielt.
Als erste durchbrach naturgemäss die SVP die Einheitsfront. Bereits vor Ostern forderte sie ein Ende des Lockdowns. Seither hat sie mit Inseraten und einer Petition nachgelegt. Spätestens ab dem 11. Mai sollten «grundsätzlich sämtliche Geschäfte und die Gastronomie unter Einhaltung von Hygiene- und Schutzmassnahmen wieder öffnen können», fordert die Volkspartei.
Sekundiert wird sie vom Blocher-Clan, der aus allen Rohren gegen den Bundesrat und besonders Gesundheitsminister Alain Berset schiesst, als ob es kein Kollegialprinzip gäbe. Das Kalkül ist altbekannt. Die SVP weiss, dass sie mit ihren Provokationen chancenlos ist, dafür Aufmerksamkeit generieren kann. Allerdings steht selbst ihre Wählerschaft klar hinter dem Bundesrat.
Ausgeschert ist mittlerweile auch die FDP, die von der Wirtschaft unter Druck gesetzt wird. In einer Mitteilung zeigte sie sich «enttäuscht» über die Beschlüsse des Bundesrats vom Mittwoch. Präsidentin Petra Gössi legte in einem Tamedia-Interview nach: Bei der Einführung des Lockdowns sei der Plan des Bundesrats noch ersichtlich gewesen. «Jetzt fehlt eine echte Strategie.»
Die CVP trägt das Ausstiegsszenario mit, nach dem Motto «so schnell wie möglich, so langsam wie nötig». Einzelne Exponenten verbergen ihren Unmut jedoch nicht. Die SP attestiert dem Bundesrat ein besonnenes Vorgehen. Er tue gut daran, sich nicht «von den verantwortungslosen Forderungen von Seiten der Rechtsbürgerlichen» zu übereiligen Lockerungen verleiten zu lassen, teilte sie mit.
Die Gesundheit der Bevölkerung stehe nach wie vor im Zentrum, liess sich Präsident Christian Levrat zitieren. So sehen es auch die Grünen als grösste Oppositionspartei, allerdings kritisiert Fraktionschef Balthasar Glättli im «CH Media»-Interview die Machtfülle des Bundesrats. Das Bundesgericht müsse Notverordnungen im Eilverfahren «abstrakt auf ihre Verhältnismässigkeit prüfen können».
Glättli ist der ungenügende Schutz von Grundrechten wie Versammlungs- und Wirtschaftsfreiheit ein Dorn im Auge. Ein heikles Thema ist auch der Datenschutz, etwa bei der geplanten Contact-Tracing-App. Die Luzerner CVP-Ständerätin Andrea Gmür stiess am Mittwoch in ein Wespennest, als sie auf Twitter forderte, die App müsse «während akuter Notphase» obligatorisch sein.
Die Chefin der Mitte-Fraktion bekam einiges zu hören. Gerade eine solche Debatte aber ist notwendig für die Akzeptanz der Massnahme. Gleichzeitig kann man dem Bundesrat nicht unterstellen, er missbrauche seine ungewöhnliche Macht. Beim schwierigen Thema der Schulöffnung am 11. Mai arbeitet er mit den Kantonen zusammen, die teilweise divergierende Ansichten vertreten.
Eine Woche zuvor kann sich auch das Parlament einschalten. Am 4. Mai beginnt die Sondersession zur Coronakrise, in der BernExpo, wo eine grosse Halle derzeit für den 200-köpfigen Nationalrat hergerichtet wird. Noch ist vieles unklar, selbst die Dauer der Session. Sie ist auf maximal fünf Tage terminiert, endet also spätestens am 8. Mai.
Wie weit aber kommt das Parlament dem Bundesrat in die Quere? Der Zürcher Staatsrechtler Felix Uhlmann hält in einem Blogbeitrag fest, dass die Notverordnungen des Bundesrats nach sechs Monaten automatisch auslaufen, ausser sie werden vom Parlament bestätigt. Es könne zudem die Massnahmen des Bundesrat «überstimmen» und durch eigene Verordnungen ersetzen.
Die Wirtschaftskommission (WAK) des Nationalrats hat genau dies vor. Ihre bürgerliche Mehrheit hat am Mittwoch verschiedene Motionen verabschiedet, mit denen sie eine beschleunigte Lockerung des Lockdowns fordert. So müsse der gesamte Detailhandel ab dem 27. April wieder öffnen können. Weil das zeitlich nicht drin liegt, ist die Forderung vor allem symbolischer Natur.
In dieser Halle soll der Nationalrat tagen. Bild: KEYSTONE
Die Linke legt den Fokus auf eine Mietreduktion für das Gewerbe. «Wenn wir nichts unternehmen, wird es zu einem Massen-Lädeli- und Beizensterben kommen», warnte die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline Badran im Gespräch mit watson. Unterstützung erhält sie von den Grünen, die zusätzlich den Umbau «hin zur grünen Wirtschaft der Zukunft» fördern wollen.
Bei den Mieten könnte es in der Sondersession eine mehrheitsfähige Lösung geben. Auch beim dicksten Brocken, der Absegnung der vom Bundesrat beantragten Kredite über rund 55 Milliarden Franken, könnte das Parlament eigene Akzente setzen und etwa die Kitas berücksichtigen. Insgesamt ist es jedoch unwahrscheinlich, dass es dem Bundesrat in den Rücken fallen wird.
Die bröckelnde Einheit dürfte in der Session einigermassen halten. Längerfristig aber wird sich der Streit der Parteien über die Bewältigung der Coronakrise verstärken. Das ist nicht einfach schlecht, sondern gehört zu einer funktionierenden Demokratie. Es darf nicht so kommen wie nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Bundesrat zu lange am lieb gewonnenen Notrecht festhielt.