Yeshi ist zehn, und ihre Gedankengänge gleichen der Blitznarbe auf Harry Potters Stirn, so schnell und gezickzackt schräg sind sie. Yeshi ist adoptiert und kommt aus Äthiopien, lebt in Zürich bei ihrer Mamma, der Vater ist in London. Sie liebt Turnschuhe, Tanzen, YouTube-Tutorials und die Betreiber eines Tattoo-Studios und wäre nur zu gerne Belle, das Mädchen aus «Die Schöne und das Biest». Yeshi ist sowas wie die schwarze Pippi Langstrumpf aus der Schweiz und eine Kinderromanheldin, die wiederum von einer Krimiautorin erfunden wurde.
Yeshis Schöpferin ist Gabriela Kasperski, sie synchronisiert seit vielen Jahren die Gutenachtgeschichten für SRF und hat drei Kinder, das jüngste ist gerade dreizehn geworden, es heisst Samira und ist wie Yeshi schwarz. Früher lebte die ganze Familie auf dem Land und sah sich nach Samiras Adoption plötzlich mit dem gesellschaftlichen Einverständnis des Dorfes konfrontiert.
Ein Einverständnis darüber, dass eine Familie weiss mit zwei leiblichen Kindern zu sein habe. Ein Einverständnis darüber, dass es aussergewöhnlich, geradezu mutig sei, ein Kind zu haben, das nicht der Norm entsprach. Jemand schenkte Gabriela Kasperski mal hundert Franken «für das Kind». Quasi als Entwicklungshilfe vor Ort.
Damals fand Kasperski ein Weihnachtsliederbuch, das zeigte einen Engelchor mit vielen weissen und einem schwarzen Engelchen. Samira war total fasziniert von diesem Bild, «und ich verstand plötzlich, was meinem Kind eigentlich alles fehlt«, sagt Kasperski, «dazu kamen zwei französische Bilderbücher über das Mädchen M’Toto. Die spielen im Dschungel in einer Art Märchenland, es gibt Drachen und Krokodile und Medizinmänner und hat mit uns hier nichts zu tun. Ich dachte: Okay, das ist alles, was ich meiner Tochter an Vorbildern bieten kann.» Und als Samira die Frage stellte: «Mama, wieso sind alle Prinzessinnen weiss?», beschloss Kasperski, ein Buch mit einer schwarzen Heldin zu schreiben. So wurde «Yeshi» erfunden.
Zwei Romane mit ihr gibt es jetzt schon, der erste führt sie in ein Flüchtlingsheim, der zweite dreht sich ums grosse Schulmusical. Im ersten erleben wir ganz Zürich aus der Perspektive eines Kindes, das seine Entscheidungen mit einem unverfroren lösungsorientierten Optimismus fällt, sehr Pippi-Langstrumpf-like eben, und das sich durch nichts entmutigen lässt, weil es Elend und Diskriminierung als Abenteuer zu bewältigen versucht.
Und dann sind da wieder die Passagen, die einem Tränen in die Augen jagen. Etwa, wenn sie sich in Band zwei vornimmt, ihre Haut zu bleichen wie sie das in einem YouTube-Tutorial gesehen hat. Ausgerechnet da fand Samira, das sei too much, das dürfe eigentlich nicht ins Buch, das sei ihr zu persönlich. «Sie und ihre Freundinnen lernen alles von YouTube: Wie man Apfelkuchen backt, Kleider näht, sich schön macht. Ich sage ihr immer, dass ich in ihrem Alter auch Probleme hatte, zum Beispiel mit meinen Haaren, aber die Sache mit der dunklen Haut ist nicht vergleichbar, das ist zwei Etagen höher von Anderssein. Zwei Etagen weiter von der Norm entfernt.»
Ein Kind wie Samira, sagt Kasperski, ist sich gewohnt, sich nicht repräsentiert zu sehen. Nicht gemeint zu sein. Umso begieriger verschlingt es alles, wo ein bisschen Gemeintsein passiert. Etwa die «Lola»-Reihe von Isabel Abedi. Neun Bände gibt es bereits, Samira hat sie alle gelesen, Lola lebt in Hamburg, ist hellhäutig und hat blonde Locken, obwohl sie einen brasilianischen Vater hat. Für den sie immer kämpfen muss, weil er dunkelhäutig ist. Samira identifiziert sich oft mit Lolas Vater.
Rassismusbewältigung geht in Kinderbüchern in kleinen Schritten vorwärts. Fundstücke sind so rar wie Perlen in Austern. Das erinnert an früher. An die Zeit als Studentin. Auf dem Literaturstudiums-Lehrplan standen 98 Prozent Autoren. Fragte man nach Frauen, so hiess es: «Schreibende Frauen? Gibt es halt einfach nicht so viele.» Und es gab sie doch. Nur nicht im Kanon.
«Deshalb habe ich begonnen, wie verrückt Krimis zu lesen», sagt Kasperski und wir sind bei der andern Seite ihrer Schreibexistenz, «im angelsächsischen Raum gibt es ja unzählige Krimiautorinnen.» Elizabeth George, Gillian Flynn, Tana French, Agatha Christie, Ruth Rendell beziehungsweise Barbara Vine, Mo Hayder, Denise Mina, Nicci French, Margaret Millar, Megan Abbott, Paula Hawkins, Shirley Jackson, Patricia Highsmith, P.D. James, Karin Slaughter – und das sind nur die naheliegendsten.
Aber wieso ist das so? Wieso gibt es dort so viele blutrünstige Frauen? «Erstens, weil in Amerika und England eine ganz andere Schreibtradition herrscht. Seit 1880 wird Creative Writing unterrichtet, das Bücherschreiben ist viel weniger an Hochkultur gekoppelt als bei uns, die Berührungsängste sind kleiner, Frauen konnten sich dort schon viel früher etablieren. Zweitens, weil es Frauen besser als Männer schaffen, völlig nachvollziehbare, vertraute, banale Alltagssituationen zu nehmen und diese zum Explodieren zu bringen.»
«Mein erster Krimi sollte eigentlich gar keiner werden», sagt Kasperski, «ich schrieb einfach drauf los und plötzlich merkte ich, auf welches Genre ich mich eigentlich einlasse. Der Thrill kam erst, als ich mittendrin war. Das Motiv war Eifersucht. Da muss man ja auch nicht gross recherchieren, das hat man in sich. Der zweite handelte von Adoption, weil wir uns da gerade im Adoptionsverfahren befanden. Da packte ich all meine Ängste rein. Danach musste ich nach Stoffen ausserhalb von mir suchen. Leider habe ich weder Zeit noch Geld, um Recherchereisen zu machen wie andere, aber das Internet hilft ungemein. Ich mache 3-D-Rundgänge in Kirchen und Bilderanalysen oder studiere Waffenmechanik.»
Kinder helfen ebenfalls. Denn für «Yeshi» zog Kasperski Samira und ihre Freundinnen zu Rate. Fragte sie: Was wünscht ihr euch? Wie würdet ihr entscheiden? Meist kam dabei etwas anderes heraus als sie es sich ausgedacht hatte. Empfindet sie den Zustand des Schreibens als beglückend oder eher als Qual? «Als Glück! ‹Yeshi› ermöglicht mir, die Welt während des Schreibens ganz durch die Augen dieses Mädchens zu sehen, das ist berauschend.»
Ihr Glück steckt an. Kasperskis Agenda platzt vor Terminen für Lesungen vor Schulklassen. Der erste «Yeshi»-Band wurde für die Mittelstufe des Kantons Zürich in ein ergänzendes Lehrmittel verwandelt, derart auf der Hand lag für alle die Leuchtkraft seiner Heldin. Und aus Deutschland hat «Yeshi» das begehrte KIMI-Siegel für Diversity in Kinder- und Jugendbüchern erhalten.
Aber die Heldinnen auf dem Buchcover sind auch da vornehmlich weiss, wunderschön, amazonenhaft und glatthaarig. Serien und Filme sind schon weiter. Die global vernetzen Streamingplattformen machen einen ganz guten Job. Doch grundsätzlich gibt es noch viel aufzuholen. Zu erfinden, zu schreiben, zu zeigen. Damit sich aus einzelnen Perlen wie «Yeshi» ganze Ketten ergeben.
Die beiden «Yeshi»-Bände sind für ein Lesealter ab 8 bis ca. 13 Jahre geeignet. «Einfach Yeshi» ist 229, «Agentin Yeshi» 256 Seiten dick, beide kosten je ca. 28 Franken. Gabriela Kasperski signiert am 23. November von 16 bis 18 Uhr im Kinderbuchladen Mr. Pinocchio an der Oberdorfstrasse 32 in Zürich etwaige Weihnachtsgeschenke.
Biologie gibts normalerweise erst ab der 4 Klasse und Thema Rassismus erst ab der 8, Synthesen ziehen in der Sek A.
Aber was weis ich als Familienvater schon.
Chli viel 🧀 uf einisch 😏
Lege nun das Hippi Gspängstli für unsere Kinder auf und bin froh das sie noch laaaaaange Kind sein dürfen.
Nicht so wie andere.