Es ist der 19. Juni 1986 in Harris County, Texas. Den US-Amerikaner Kenneth Albert Brock erwartet die Todesspritze. Nur wenige Momente vor der Injizierung versucht sein Anwalt panisch und völlig zwecklos eine Begnadigung zu beantragen. Auch Brocks Vater will den rechtssprechenden Gewalten das Todesurteil über seinen Sohn ausreden. Brock selber bleibt gelassen. Seine letzten Worte waren:
Brocks letzte Worte wurden zusammen mit den letzten Lebenssequenzen von 500 weiteren zu Tode verurteilten Personen veröffentlich. Der Psychologe Kurt Gray hat sie alle gelesen und ist fasziniert: «Entgegen meinen Erwartungen waren die letzten Worte der todgeweihten Häftlinge grosso modo alle strotzend vor Positivität und Moral.»
Davon ausgehend, stellte er sich die Frage, ob es nur zum Tode verurteilte Straftäter sind, die die Welt mit solch positiven Haltungen verlassen oder ob dahinter ein grösserer psychologischer Zusammenhang besteht.
Dazu hat er zusammen mit einem wissenschaftlichen Team einen Algorithmus entwickelt, der Blog-Einträge von Krebspatienten im letzten Stadium analysiert.
In einem nächsten Schritt bat Gray eine Vielzahl gesunder Menschen, sich in die Situation einer todgeweihten Krebspatientin zu versetzen und davon ausgehend einen fiktiven Blog-Eintrag zu verfassen.
Die Ergebnisse zeigten, dass die «nicht kranken» Blogger viel mehr negative als positive Aspekte aufzeigen. Wohingegen bei den tatsächlichen Kranken doppelt so viel positive Worte gefallen sind wie negative Formulierungen. Zudem hat sich bei der Analyse gezeigt, dass sich glücksschwangere Worte wie «Liebe», «Schönheit», «Güte» und «Stolz» immer mehr gehäuft haben, je näher sich die kranke Person beim realen Tod befand.
Das Stichwort, das dieses Phänomen erklären soll, lautet «psychologisches Immunsystem». Jeder Mensch verfügt über diesen geistigen Reflex, der dafür sorgt, einigermassen mit Schicksalsschlägen umzugehen. Gray beschreibt ihn als «den inneren Mechanismus», der Sätze hervorbringt wie:
Im begleitenden Aufsatz zu seinen Untersuchungen schreibt er: «Das psychologische Immunsystem springt erst dann an, wenn wir es wirklich brauchen, wenn schlimme Sachen passieren. In unserer Gesellschaft wird nichts so extrem schlimm antizipiert wie der Tod. Was bedeutet, dass bei der Diagnose einer tödlichen Krankheit sofort ein starker, sinn-suchender Prozess eingeleitet wird. Kurz: Man beginnt die Situation zu rationalisieren.»
Natürlich muss man die Kühnheit, mit der die Blog-Posts verfasst sind, auch relativieren. Blogs werden für ein öffentliches Publikum geschrieben. Ihre teils poetischen Inhalte zeigen oft lediglich die Seite des Autors, die er selber akzeptiert und deshalb auch gewollt ist zu zeigen. Dennoch sei für Gray klar, dass seine Untersuchungen zeigen, dass der Tod für Sterbende viel würdevoller sei, als sich das gesunde Menschen vorstellen können.
Denn anders als man denke, fände der Tod nicht in Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit statt. Viel mehr finde man in den letzten Zügen des Lebens die Bedeutung im Tod. Man sei nicht allein, sondern bei ganz anderen, viel höheren Dingen. Nicht fokussiert auf sich selbst.
Auch weitere Stimmen aus Wissenschaft und Praxis folgen dieser Meinung. Eine Cambridge-Studie letzten Jahres beispielsweise befasste sich mit dem Sterbeprozess von über 95-jährigen Menschen. Restlos alle seien dem Tod gegenüber gelassen eingestellt gewesen, heisst es dort. Und bei der Mehrheit fiel der Satz «I'm so ready» just vor dem letzten Atemzug.
Des Weiteren erklärte eine Schweizer Sterbebegleiterin kürzlich gegenüber SRF, dass der Tod meistens mit einem Lächeln daherkommt und viele das Gefühl des Sterbens mit dem freudigen Aufschrei: «Oh, jetzt kommt's!» ankünden.
Das Gefühl, das der todgeweihte Häftling Kenneth Albert Brock vor 31 Jahren in einer texanischen Hinrichtungszelle verspürte, kennen die Wenigsten, die diesen Text lesen werden. Aber irgendwann wird es wohl oder übel auch uns vergönnt werden. Auf schönere oder auf unschönere Weise, früher oder später. Hoffentlich letzteres, damit wir noch schön lange Angst davor haben können, bis uns klar wird, dass es eigentlich nicht viel zu befürchten gibt. Schliesslich ist diese Angst ja die Kraft, die uns am Leben hält.
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