Willi Herren hatte nichts ausgelassen: Schulden, Frauen, Drogen. Aber vor allem Reality-TV-Formate, mit denen er versuchte, die Schulden zu tilgen. Und weil er in ihnen eine Art von Authentizität und gesellschaftlichem Nutzen erkannte, die den meisten von uns fremd sein dürfte.
«Realityformate heissen deshalb so, weil man einen realen Querschnitt der Gesellschaft sieht», sagte er noch vor acht Tagen, als es in seiner aktuellen Reality-Heimat «Promis unter Palmen» zu einem Eklat kam: Marcus Prinz von Anhalt, der sich familiär bei Zsa Zsa Gabor und Frédéric von Anhalt als «Adoptivsohn» eingekauft hatte, äusserte sich homophob und frauenfeindlich.
Willi Herren griff ein. Nur mit Worten. Denn Willi Herren hätte auch seine Fäuste sprechen lassen können, doch das tat er nur im Ring. 1975 war er als Sohn eines Boxers (namens Willi) und einer Prostituierten und als eines von sechs Kindern in Köln zur Welt gekommen. Seine Sicht auf die Welt war eine von unten. Mit zehn schaffte er den Einstieg in die Schauspielerei, mit 17 kam er zur «Lindenstrasse», die 170 Folgen lang sein Leben bestimmte und ihn in der Rolle des Olli Klatt Sonntag für Sonntag in die öffentliche Wahrnehmung katapultierte.
Die ARD beschreibt Herrens wichtigste Rolle so, als wäre sie ihm auf Leib und Leben geschrieben: «Oliver Klatt, Jahrgang 1976, ist Zeit seines Lebens dauerpleite und entwickelt ständig neue Pläne, die daran etwas ändern sollen. Olli lügt, stiehlt und erpresst. Auf der Suche nach dem grossen Geld landet Olli ein ums andere Mal im Gefängnis. Wenn er auf freiem Fuss ist, verschlägt es ihn immer wieder in die Münchener Lindenstrasse. Hier ist niemand gut auf ihn zu sprechen. Im Jahr 2014 wird er dort zum letzten Mal gesichtet. Wie die Lindensträssler im März 2020 erfahren, ist Olli irgendwann bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen...»
Ums Leben kam Klatt im grossen Schaulaufen des sozialdemokratisch korrekten deutschen TV-Biedermeiers jedoch nicht bei irgendeinem spektakulären Autounfall, sondern beim Segway-Fahren auf Mallorca. Also unweit von dort, wo Willi Herren auch einmal sein Glück suchte. Als Ballermann-Entertainer. Als Sänger im «Bierkönig». Als Kumpel von Herren wie Michael Wendler, Jens Büchner, Ikke Hüftgold und wie sie alle hiessen und heissen.
Er lernte dort Jasmin kennen, die einst von Jürgen Drews in einer Disco entdeckt worden war und dann am Ballermann als Nacktsängerin namens Toy Karriere machte. Er trennte sich für sie von seiner langjährigen Freundin und Managerin Jana Windolph und heiratete Jasmin 2018. Die beiden trennten sich im März 2021. Aus einer weiter zurückliegenden Beziehung mit Mirella Fazzi hat Herren einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn hat ihn bereits zum Grossvater gemacht, Herrens Enkel heisst Willi.
Die Tochter stieg 2020 mit 18 Jahren ebenfalls ins Reality-Geschäft ein, und Papa Willi schrieb auf Instagram: «Ich bin sooooo stolz auf dich. Die kleine Herren wird das Märchenland zum Zauberland machen.» Es braucht schon sehr viel Liebe zur Materie, um «Promi Big Brother» als «Märchenland» zu bezeichnen.
Bei aller Grobschlächtigkeit, die Herren in Formaten wie «Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!», «Ich bin ein Star – Lasst mich wieder rein!», «Promi Big Brother» oder «Sommerhaus der Stars» zur Schau stellte – der hervorragendste Eindruck blieb doch, dass er eine gute Seele hatte. Es wirkte fast kindlich, wie er von einem Fettnapf in den nächsten stolperte, und als einer der ganz wenigen Celebrities war er auch fähig, sich zu entschuldigen und Schwächen einzugestehen.
2012 etwa stellte er sich in Köln mit dem Salafistenprediger Pierre Vogel während einer Kundgebung auf die Bühne und sagte, dass Vogel «ein herzensguter Mensch» sei. Er distanzierte sich danach umgehend von seinem ehemaligen Box-Kumpel, den er schon seit vielen Jahren nicht gesehen habe und gestand, sich nicht kritisch genug mit dessen Laufbahn auseinandergesetzt zu haben. «Willi Herren ist höchstens radikal er selbst und nicht mehr und nicht weniger», sagte «Lindenstrasse»-Produzent Hans W. Geissendörfer zu dem Vorfall.
Als Willi Herren in der Nacht auf Dienstag mutmasslich an einer Überdosis starb, war er auf einem guten Weg, seine Geldprobleme in den Griff zu kriegen. Er hatte seinen Schuldenberg bereits von 500'000 auf 50'000 Euro reduziert und eine neue Geschäftsidee an den Start gebracht, um seine 300 wegen Corona ausgefallenen Konzerte auszugleichen. Erst am vergangenen Freitag hatte er in Frechen bei Köln mit Freunden zusammen seinen Reibekuchen-Truck eingeweiht. Also einen Härdöpfeltötschli-Wagen. «Ich will damit steinalt werden», sagte er. Es sei schon seit Kindheit einer seiner Träume gewesen, jeder Marktbesuch hätte ihn immer zuerst zum Reibekuchen-Stand geführt.
Über 35 deutsche Medien hatten die Eröffnung begleitet, viele von Herrens Freunden und seine Kinder waren da, er zeigte sich dankbar und begeistert und erzählte, wie er den Truck so umgerüstet habe, dass er obendrauf singen könne, während unten die Leute verköstigt würden. Es war sein letzter Auftritt.
Als seine Geschäftspartner, mit denen er sonst zwanzig bis dreissig Mal pro Tag telefonierte, eine Nacht und einen Morgen lang nichts von ihm gehört hatten, schickten sie die Polizei in seiner Wohnung vorbei. Der Rest ist bekannt.
Vielleicht war Willi Herren ein Mensch ohne Geheimnisse. Glasklar in seiner Fehlerhaftigkeit und im Wissen darum. Seine Abgründe lagen auf der Hand, er hat sie nie verschwiegen und sich immer wieder hochgerappelt. Umso trauriger ist es, dass jetzt niemand seinen letzten Fall auffangen konnte.
R. I. P.