Ihr bewegtes Leben hat ihr den Spitznamen «der wahre Forrest Gump» eingebracht. Nur wenige haben so viele historische Momente erlebt – und können noch davon erzählen. Schon der Auftakt war abenteuerlich: Auf einem Schiff im Ärmelkanal kam Täo Porchon-Lynch zwei Monate zu früh zur Welt. Es war der 13. August 1918. Ihre Mutter, eine gebürtige Inderin, starb bei der Geburt. Ihr Vater, ein Franzose, lebte ausser Landes. So wuchs Täo bei ihrem Onkel und ihrer Tante in Pondicherry, einer französischen Kolonie in Indien, auf.
Der erste historische Augenblick liess nicht lange auf sich warten. Als Elfjährige lernte Taö durch ihren Onkel – Vital Porchon, ein bekannter Planer von Eisenbahnstrecken – Mahatma Gandhi kennen und begleitete ihn gemeinsam mit ihrem Onkel 1930 auf dem Salzmarsch, um gegen das britische Salzmonopol zu demonstrieren. Weitere historische Momente ziehen sich wie ein roter Faden durch ihr Leben: Während des 2. Weltkrieges zogen ihr Onkel und sie los, um in Frankreich nach Täos Vater zu suchen. Dort wurde sie Teil des französischen Widerstandes und verhalf unter Charles de Gaulle Juden zur Flucht. «Ich glaube nicht an Angst», sagte sie in etlichen Interviews über diese Zeit. «Ich wollte einfach das Richtige tun.»
Später führte ihr Leben sie nach London, wo sie als Kabarett-Tänzerin arbeitete, dann weiter nach Frankreich, wo sie für berühmte Namen wie Chanel modelte und schliesslich nach New York, wo sie als Model, Schauspielerin und Regisseurin ihr Geld verdiente. Sie lernte namhafte Personen wie Ernest Hemingway, Marylin Monroe und Elisabeth Taylor kennen und zählte Ikonen wie Marlene Dietrich zu ihrem Freundeskreis.
Einen Namen hat sich die 99-Jährige Täo aber vor allem als Grande Dame des Yoga gemacht. Zu ihrer Passion fand sie zufällig, als sie mit acht Jahren in Pondicherry ein paar Jungen am Fluss beobachtete, die Yoga praktizierten. Täos Tante sagte ihr, das sei nicht ladylike. Täo aber war stur und sagte sich: «Wenn das Jungen können, dann kann ich das auch!». Eine Liebesbeziehung nahm ihren Lauf. Sie war eine der ersten Frauen, die vom Yoga-Meister B.K.S. Iyengar unterrichtet wurde. «Ich sagte ihm, er sei ein Snob, weil er keine Frauen zuliess», lacht sie, da habe er sie aufgenommen. In ihren 75 Jahren als Lehrerin hat sie mehr als 1'600 Schülerinnen und Schüler ausgebildet, im Pentagon Yoga unterrichtet und wurde 2012 vom Guinness-Buch der Rekorde zur ältesten Yoga-Lehrerin ernannt.
Ihren zweiten Eintrag in ebendem Buch verdankt sie ihrer zweiten grossen Leidenschaft, dem Gesellschaftstanz. Mit 87 Jahren fing sie damit an und hat seither hunderte Preise eingeheimst – und dieses Jahr den Rekord als älteste professionelle Tänzerin aufgestellt.
Ich treffe Täo eines Morgens in einem kleinen Yoga-Studio in der Nähe ihres Wohnortes Hartsdale, ein Vorort eine Stunde ausserhalb von New York. Mit wachen Augen streckt sie mir ihre zierliche, sorgfältig manikürierte Hand zum Gruss hin. Ihre tiefrosa lackierten Nägel und ihr Lächeln leuchten um die Wette. Als sie erfährt, dass ich aus der Schweiz bin, plaudert sie gleich los: «Ich war 1947 in St. Moritz, um zu modeln. Was für ein wunderschönes Land! Nur Yoga unterrichtet habe ich da noch nie. Ach, es gibt so viel zu tun und zu entdecken und so wenig Zeit.» Woher nimmt sie all diese Energie, will ich von ihr wissen.
Täo, was ist dein Geheimnis für ein langes und gesundes Leben?
Yoga habe ich bestimmt viel zu verdanken. Ausserdem lebe ich nach ein paar simplen Mantras:
Glaubst du, dass man als optimistischer Person geboren wird oder ist eine positive
Lebenseinstellung etwas, das man kultiviert?
Vielleicht ist es ein wenig angeboren. Schon als Kind lachte ich sehr viel.
Zu einem Grossteil habe ich meine positive Art aber meinem Onkel zu verdanken. Er hat mir
beigebracht, alle Menschen gleich zu behandeln und nicht auf andere herunterzuschauen. Ein
Bauer mag zwar nicht lesen können, pflegte er zu sagen, aber er versteht die Erde und kann sie «lesen».
In seinen Augen bist du also der Analphabet.
Bist du manchmal auch besorgt?
Ich lasse nicht zu, dass negative Gedanken in mir aufsteigen. Ich lasse nur positive Gedanken
in meinen Geist und denke nicht darüber nach, was alles Schlimmes passieren könnte. Ich kultiviere
positive Gedanken, denn diese verwirklichen sich dann auch!
Was kannst du mir über deine Ernährung erzählen?
Ich esse jeden Morgen eine halbe Grapefruit und dazu Fruchtsaft. Überhaupt esse ich vor allem viel frische Früchte und frisches Gemüse, manchmal auch indisches Essen. Ich trinke kein Wasser, sondern nur Fruchtsäfte – und ich liebe Wein und Milchschokolade.
Ob es daran liegen mag, dass sie jeweils um fünf Uhr morgens aufsteht? Würden wir nicht von ihrer langjährigen Freundin und Assistentin Joyce Pines unterbrochen, würde Täo wohl noch lange aus ihrem reichen Erfahrungsschatz erzählen. «Lasst uns mit der Yoga-Stunde beginnen!», ruft Joyce und die paar wenigen Frauen, die an diesem Morgen nach Thanksgiving anwesend sind, gruppieren sich um Täo. Diese hat es sich gerade im Lotus-Sitz – die Beine im Schneidersitz, die Fussrücken auf dem jeweils gegenüberliegenden Oberschenkel ruhend – bequem gemacht. Nach drei Hüftoperationen und der Beteuerung ihres letzten Arztes, dass sie nach dieser Operation nie mehr so beweglich sein würde, grenzt dies an ein Wunder. Der Arzt zumindest, hat in seiner Praxis ein Foto von Täo im Lotus-Sitz aufgehängt. Die Notiz darunter:
Mit Eleganz und Routine führt Täo durch die eineinhalbstündige Yoga-Lektion. Es ist eine von vier Lektionen, die sie wie jede Woche unterrichtet. Ihre langjährigen Schülerinnen – manche kommen seit mehr als 35 Jahren – unterstützen sie beim Unterricht und wechseln sich darin ab, Übungen vorzuzeigen, die für Täo mittlerweile doch zu anstrengend sind. Die Atmosphäre ist entspannt und freundschaftlich, Komplimente werden ausgetauscht und man nickt sich aufmunternd zu. Dennoch liegt ein Hauch von Unruhe in der Luft. «Heute ist Tao nicht ganz so fit wie sonst», murmelt ihre Freundin Joyce besorgt.
Kaum ist die Yoga-Lektion vorbei, steht aber schon der nächste Programmpunkt für Täo an: Tanzunterricht.
Joyce will noch mit ihr sprechen, aber Täo ist schon in ihre goldfarbenen High Heels geschlüpft und gleitet mit ihrem um 74 Jahre jüngeren Tanzpartner über das Parkett, das im Raum gleich neben dem Yogastudio ist. «Alles, was sie verdient, gibt sie für Tanzstunden aus«, lacht Joyce und schüttelt den Kopf. «Acht Lektionen nimmt sie pro Woche», sagt sie, hält inne und fügt dann an, «schau dir diese Lebensfreude an.»
Schweigend schauen wir zu, wie Täos grazile Gestalt im Walzerschritt über das Parkett schwebt. «Es ist fast wie Fliegen … » hören wir sie zu ihrem Tanzlehrer sagen und sie strahlt dabei, wie nur sie es kann.