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«Macht seiner Rasse Ehre»: So antisemitisch war die Engadiner Hotellerie

Hotel Waldhaus Vulpera
Derart prächtig beherbergte das Waldhaus Vulpera einst seine internationalen Gäste.Bild: R.Guler/Lois Hechenblaikner

«Macht seiner Rasse Ehre»: So antisemitisch war die Engadiner Hotellerie

«Keine Ostergrüsse mehr!» ist eine Fundgrube von einem aufschlussreichen Bildband. Er zeigt, was das Personal eines Schweizer Luxushotels alles in seiner Gästekartei vermerkte.
05.04.2021, 13:5706.04.2021, 15:39
Simone Meier
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Der Brand frisst alles ausser der Erinnerung. Frisst 92 Jahre Unterengadiner Hotelgeschichte und Hotelpracht, die noch lange nicht an ein Ende hätte gelangen müssen. Dass es sich beim Feuer am 27. Mai 1989 um Brandstiftung handelt, wird erst vermutet, dann bestätigt, das Hotel Waldhaus Vulpera ist nicht mehr zu retten. Zum Glück steht es leer, die Sommersaison hat noch nicht begonnen.

Doch neben der Erinnerung an ein Hotel, dessen Eingangshalle früher mit einer Alpinlandschaft voller ausgestopfter Bären, Murmeltiere und Raubvögel prunkte, das ein eigenes Orchester beschäftigte und wöchentliche Bälle veranstaltete, hat noch etwas überlebt: Gut 20'000 maschinen- oder handbeschriebene Karten der Gästekartei. Sie befanden sich in den vom Feuer verschonten Nebengebäuden. Und auf ihnen steht alles, womit ein Hotelgast aufgefallen ist. Das Gute, das Schlechte – und das Zeitgeschichtliche. Besonders Letzteres sagt viel, am allermeisten über die Schweiz.

Feuerwehr beim Loeschen des Grossbrandes im Kurhotel Waldhaus Vulpera im Unterengadin, Kanton Graubuenden, am 27. Mai 1989. (KEYSTONE/Arno Balzarini)
Alptraum aus Rauch und Flammen: Am 27. Mai 1989 brennt das Hotel Waldhaus nieder.Bild: KEYSTONE

Der 63-jährige österreichische Fotograf Lois Hechenblaikner – der Gleiche, der 2020 mit seinem «Ischgl»-Bildband für Aufsehen sorgte, weil darin noch einmal die Rolle von Ischgl als Corona-Turbo illustriert wurde – hat jetzt mehrere Hundert dieser Karteikarten in einem Bildband geborgen. Er umfasst ungefähr die Zeit zwischen 1920 und 1955 und zeigt, wie sich Vorahnung, Ausbruch und Echo des Zweiten Weltkriegs in der Engadiner Hotellerie spiegelten. Man pflügt sich mit wachsendem Entsetzen durch den 400-seitigen Bildband. Durch das Inferno an antisemitischen Äusserungen, die einem hier entgegenschlagen.

Vordergründig werden die Hotelgäste nichts davon bemerkt haben, aber hinter den Kulissen gab es Verachtung in Abstufungen, die weit über die übliche Beurteilung hinausging.

Das Waldhaus beherbergte im Gegensatz zu anderen, «judenfreieren» Hotels in der Bäderkur-Gegend von Schuls, Tarasp und Vulpera besonders viele jüdische Gäste. Für viele von ihnen war die Schweiz das letzte Ferienland in Mitteleuropa, in dem sie nicht verfolgt wurden, einige von ihnen kehrten nach ihrem Urlaub nicht mehr nach Deutschland oder Österreich zurück, sondern reisten weiter ins Exil. Und nach dem Krieg trafen sich Überlebende wieder im Engadin, um sich auszutauschen.

Bad Schuls-Tarasp-Vulpera Poster by Martin Peikert, 1943 (Photo by �� Swim Ink 2, LLC/CORBIS/Corbis via Getty Images)
Tourismuswerbung für die Bäderregion Schuls-Tarasp-Vulpera von 1943.Bild: Corbis Historical

«Juden auch schon äusserlich, frech & schmutzig», heisst es 1926 auf der Gästekarte einer Mutter und ihrer Tochter aus Essen. Mütter und Töchter verreisten übrigens oft zusammen, meist mit dem Ziel, in einem vornehmen Hotel eine gute Partie für die Tochter zu finden. Umso ärger dann die Enttäuschung, wenn Frauenüberschuss herrschte.

«Versucht zu markten, zufrieden, Stinkjude», wird 1929 ein Herr aus Bielefeld charakterisiert.

«Schönstes Exemplar seiner Rasse» lautet ein Kommentar von 1944 zu einem Gast aus Basel, «Vollblüter, Achtung!» 1947 zu einem aus Kairo. «Richtiger Jude», «grosser Jud», «Saujude» – alles geht. Aber nicht immer. Erstens gab es auch jüdische «Glanzgäste». Und zweitens lebte ein Hotel ja auch immer von der Diskretion. Und so fanden sich um 1930 herum plötzlich auffallend viele «Tiroler» im Waldhaus. «Grosser Tiroler», «etwas Tiroler sonst nett», «billiger Tiroler» findet sich da, auch dies nur ein Code für jüdische Gäste. Vermutlich so gewählt, weil Tiroler als äusserst geschäftstüchtige Händler bekannt waren.

Hotel Waldhaus Vulpera
Karteikarte aus dem Walhaus. Der jüdische Herr Ullmann wird um 1930 noch als «Palestina-Schweizer» bezeichnet, nach dem Krieg wurde diese Charakterisierung auf ein «P» verkürzt.Bild: Lois Hechenblaikner

Nach dem Krieg entschieden sich die Concierge im Waldhaus für ein unscheinbares P auf der Gästekarte. P wie Palästina. Ein P war okay, doch wer das Maximum von sieben P erreichte, galt als absolut unausstehlich. «PPP macht seiner Rasse Ehre», «PPP der ekelhafteste Gast 1949», «PPP und sehen furchtbar aus das schönste PPP-Paar 1948». 1951 ist dann wieder fertig mit der verklausulierten Zurückhaltung, über einen Mr. Michael Mayer aus London heisst es: «Schiesst den Vogel aller Juden 1951 ab ... Darf unter keinen Umständen mehr aufgenommen werden.»

«Keine Ostergrüsse mehr!» ist der Titel des grossen, kultursoziologischen Buchs über die geheimen Kommentare: Einen Ostergruss mit Werbung für die kommenden Saison bekam nämlich nur, wer im Waldhaus grundsätzlich willkommen war. Während des Kriegs wurde auf unzähligen Gästekarten die Retournierung der Ostergrüsse vermerkt oder ein schlichtes «parti» oder «verzogen» darauf gesetzt: Die entsprechenden Adressatinnen und Adressaten waren im Exil, im Konzentrationslager oder bereits tot.

Hotel Waldhaus Vulpera
Mrs. Dora Selver arbeitete mit Unterwäsche und liebte Gigolos.Bild: Lois Hechenblaikner

Im Hotel tafelten aber auch deutsche Minister, Unternehmer, Bankiers, NSDAP-Grössen und ihnen nahe stehende Schweizer Politiker. Namen wie Siemens, Flick, Bosch oder Ernst Ferdinand Sauerbruch, legendärer Chirurg an der Charité, der 15 Prozent Rabatt erhielt, weil er das Waldhaus gelegentlich betuchten Patienten empfahl. «Hohes Tier im Dritten Reich. Badrutt hat ihn ins Palace gelotst», vermerkt die Karte über den Staatssekretär Erich Neumann, der offenbar nach St.Moritz abgeworben wurde, und schlussfolgert Jahre später: «1945. Das Tier wird wohl kleiner geworden sein.»

Es herrscht da über Jahre hinweg mit aller unternehmerischen und touristischen Selbstverständlichkeit ein Nebeneinander von Tätern und Opfern, wie es nur in der Blase eines Hotels möglich ist, eine fragile Gleichzeitigkeit, die von heute aus gesehen unheimlich erscheint.
Hotel Waldhaus Vulpera
Offenbar ein Problemgast.Bild: Lois Hechenblaikner

Und fast in man dankbar für die komischen Lückenbüsser, für all die Gäste, die sich im Buch auch noch finden und die weder für ihre Nähe zur Macht hofiert noch für ihre Religionszugehörigkeit diskriminiert werden. Leute, die als «Hochstapler» oder «Spionin» gelten. Leute, über die es heisst: «Spinnt auf Hochtouren», «flirtet zu viel mit 2. Telefonistin», «nice, would like to have twelve gigolos at the Waldhaus» oder «sieht gut aus und bekannt als die rassigste Frau 1949».

Aber während die historisch bedeutenderen Damen und Herren wie auch die europäische und touristische Geschichte jener Zeit im Buch exakt dokumentiert sind, findet sich über die «rassige» Schöne nichts Weiteres. Ihr betörendes Bild dürfte der Concierge von 1949 diskret mit sich ins Grab genommen haben.

Lois Hechenblaikner u.a.: Keine Ostergrüsse mehr! Die geheime Gästekartei des Gandhotel Waldhaus in Vulpera. Edition Patrick Frey, Zürich 2021. 396 Seiten, ca. 57 Franken, viele Abbildungen.

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73 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Ralph W
05.04.2021 14:50registriert September 2019
Der Antisemitsimus war keine Sache der Deutschen. Der war überall.
Vorallem während der Nazizeit überall verbreitet
Jüdische Flüchtlinge wurden fast nirgends reingelassen. Asylanträge abgelehnt. In der Schweiz und auch in Nordamerika. Sie waren nirgends willkommen. Warum?
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Hirngespinst
05.04.2021 15:40registriert August 2019
"Spinnt auf Hochtouren"
Muss ich mir merken 😂
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Stargoli
05.04.2021 19:33registriert Januar 2015
Interessante Geschichte am Rande: Am 19. April 1989 also einen guten Monat vor dem Brand (mit Brandstiftung) vom Hotel Vulpera, beendet Dürrenmatt seinen letzten Roman „Durcheinandertal“. Er selbst war oft Gast in diesem Hotel und nahm es als Vorbild für sein Buch. Das Buch endet damit, dass das Hotel von den einheimischen angezündet wird um dem verbrecherischen Treiben darin Einhalt zu gebieten. Und tatsächlich, noch vor der Veröffentlichung des Buches wurde das Hotel dann angezündet.
Hat zwar nichts mit diesem Artikel direkt zu tun. Dennoch ein spannendes Detail.
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