Wer kennt es nicht? Das verrückte Glück, zuunterst in der Paprika-Chips-Tüte anzukommen, dort, wo die Krümel klein, aber die Überreste der Gewürzmischung am reichlichsten sind? Dort, wo Salz und Fett die Finger klebrig machen? Beim kleinen orangen Orgasmus made in Switzerland? So ungesund. So gut.
Das Glück, das ich meine, wurde 1964 lanciert. Natürlich von Zweifel. Der junge Patron Hansheinrich Zweifel war auf Amerikatour gewesen und hatte dort etwas Neumodisches zum Grillfleisch gegessen, was ihn nicht mehr losliess: Barbecue-Sauce. Zuhause versuchte er, den Geschmack zu rekonstruieren. Am nächsten kam ihm eine Zutat aus dem ungarischen Gulasch, die Paprika, angereichert mit einem Raucharoma. Die geheime Gewürzmischung, die Hansheinrich an amerikanischen Jazz und an ungarischen Czárdás erinnert haben soll, wurde bis heute nicht verändert.
Aber erzählen wir die ganze Geschichte. Oder wenigstens ein Stück Schweizer Snack- und Volksgeschichte. Denn schuld war kein anderer als der Papst. Daran nämlich, dass die Kartoffel in die Schweiz kam. 1565 schenkte der spanische König dem Papst eine der aus Südamerika importierten Knollen. Die Italiener bestaunten die hübschen Blüten, wussten aber sonst nicht allzu viel damit anzufangen.
Erst während der Hungersnot von 1770 mauserte sich die Kartoffel zum wichtigen Nahrungsmittel, und als in den 1840er-Jahren die grosse Kartoffelfäulnis ausbrach, führte dies zur bisher grössten Schweizer Auswanderungswelle (nach Russland und nach Übersee), weil unzählige Kartoffelbauern in den Ruin getrieben wurden.
Das Nationalgericht Rösti etablierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, es war die Kraftnahrung der Arbeiter und stillte die gelegentliche Lust der Wohlhabenderen nach Währschaftem. Und als der Zweite Weltkrieg vorbei war und man nicht mehr so richtig wusste, wohin mit all den Kartoffeläckern, die im Zuge der sogenannten «Anbauschlacht» auf Schulhöfen oder öffentlichen Plätzen wie dem Zürcher Sechseläutenplatz angelegt worden waren, da hörte ein Kartoffelbauer namens Hans Meier aus Katzenrüti auf seine Frau.
Frau Meier hatte wie jede Schweizerin das Kochbuch der Winterthurer Autorin und Kochschulleiterin Elisabeth Fülscher (deren Vater für Sulzer Bohrer für den Simplonbau entwickelte) genau gelesen. Fülscher hatte schon 1935 ein Rezept für «Pommes chips (Kartoffelscheibchen)» lanciert und dazu geschrieben: «Pommes chips heiss zu Fleisch oder kalt zu Tee (wie Salzmandeln) servieren.» 1947 ergänzte sie die Getränkeauswahl zu den Chips um Bier.
Und als Meiers Sohn, der in die USA ausgewandert war, nachhause berichtete, dass die Potatoe Chips drüben der ganz grosse Hit seien, da begann Meier damit, in einer alten Feldküchen-Pfanne Chips zu frittieren und in Tüten an Restaurants zu verkaufen. Ob der Herzinfarkt, an dem er bald verstarb, mit seinen Chips zu tun hatte, sei dahingestellt.
Sein erst 25-jähriger Cousin und Nachfolger, Hansheinrich Zweifel, der am 2. November 2020 im Alter von 87 Jahren starb, beharrte jedenfalls ein Leben lang darauf, dass es sich bei seinen Chips um ein besonders gesundes Genussmittel handle. 2008 erzählte er im «SonntagsBlick»:
Die Zweifels sind seit dem Mittelalter in Höngg ansässig und betreiben auch heute noch einen Wein- und Getränkehandel. Nach Kriegsende hatten sie eine neue Mostanlage gebaut und als sie Meiers Chips-Produktion nach Höngg (später nach Spreitenbach) übernahmen und sie um unglaubliche vier Hotelfritteusen aufstockten, da erfand Hansheinrichs Vater den Slogan: «Chips mached Durscht, Moscht löscht de Durscht.»
Hansheinrich selbst ging erst einmal nach Amerika und betrieb Chips-Forschung. Von amerikanischen Produzenten erfuhr er, dass sich auch die Migros für das krosse Gold interessierte. Er wollte schneller sein. Und er war es. Weil er die wichtigste Lektion der Amerikaner sofort begriff: Nur Selbstbewusste erobern die Welt, und viel Action zeigt viel Wirkung. Mit grössenwahnsinnigen Werbekampagnen, die weit mehr kosteten, als Zweifel einnahm, wurde der Schweiz eingebläut, dass es ohne die Chips nicht mehr gehe.
Chips wurden als die neue amerikanische Convenience-Food-Beilage angepriesen – zu Grilladen und Gemüse aus der Dose etwa. Beizern wurde klar gemacht, dass ein salziges Schälchen den Getränkekonsum und damit den Umsatz gehörig ankurbeln würde. Besonders erfolgreich gepusht wurde fertig gekauftes Grill-Poulet mit Chips, ein Gericht ohne Aufwand, das – so die verblüffte Marktforschung – auch der Vollzeit-Hausfrau ein «5-Tage-Woche-Gefühl» verschaffte.
Freie Zeit und Freizeit. Apéro und Picknick. Cocktail-Partys. Fast- und Fertigfood. Essen in Dosen, Tüten und Gefriertruhen. Samt all der Maschinen, die es zu dessen Herstellung brauchte.
Der ehrgeizige Hansheinrich nahm auch Industriespionage auf sich, stieg an einem Sonntag ins Gelände der Firma Pavesi im Tessin ein und sah, dass es nur eine Möglichkeit gab, den in den Startlöchern stehenden Konkurrenten aus dem Feld zu räumen – er musste ihn erst ausstechen und irgendwann aufkaufen. Er schickte eine Flotte über die Schweiz, den «Frische-Service», hartnäckige Zweifel-Botschafter in VW-Bussen, die jeder Beiz und jedem Laden ihre Produkte andrehten und Abgelaufenes durch Frisches ersetzten. Angeblich auch in der entlegensten Skihütte.
Zweifel war die Saga einer Eroberung. So wie einst die spanischen Eroberer die Kartoffel aus Peru mitgebracht hatten. Zweifel-Chips gewannen regelmässig Beliebtheitsumfragen und Konsumententests und wurden zu einer der vertrauenswürdigsten Marken der Schweiz. Seit 2002 hat sie auch die Migros im Sortiment, und selbst die Attacke von Pringles stachelte sie zu neuen Umsatz-Hochs an. Weil Hansheinrich seiner Belegschaft bei gleichbleibenden Umsätzen eine Prämie versprach. «Kampf ist der Vater aller Dinge», schrieb er damals in die Personalzeitung.
Nur mit der Rückeroberung der Welt ausserhalb der Schweiz harzte es. Ungarn zum Beispiel war nicht an den angeblich so ungarischen Paprika-Chips interessiert. Dafür kann Zweifel – etwa im Gegensatz zu Pringles – heute alle seiner 106 Produkte als vegetarisch, 77 als vegan und 74 als glutenfrei bezeichnen. Abgesehen vom weiterhin bestehenden Fett-, Salz- und Zucker-Problem erfüllt der beliebteste Schweizer Snack, der in Orange, die zeitgemässen Anforderungen der Genussgemeinde. Wir sind Paprika-Chips.
Quellen für diesen Artikel: SRF, NZZ, SonntagsBlick, handelszeitung.ch, Schweizerisches Nationalmuseum, Zweifel.ch, eggergemuese.ch sowie die ausgezeichnete Dissertation «Ready to Eat» von Eva Maria von Wyl, erschienen 2015 im Hier und Jetzt Verlag.
Und Pringles sind einfach nur gruusig (aus Pampe).
Ich bevorzuge allerdings Salz und nicht Paprika :)