Es ist frustrierend, sich an einem Rezept abzuarbeiten. Am Ende findet man kein Thaibasilikum, keine Hoisin-Sauce, kein Ras el Hanout, keine Udon-Nudeln, keine Senfsamen. Nicht im Laden, schon gar nicht im Küchenschrank. Und plötzlich fragt man sich, ob 180 Gramm saurer Halbrahm tatsächlich die ideale Menge ist, oder sich der Kochbuchautor bloss an der Grösse der verkauften Portion orientiert hat. Man beginnt das Rezept zu korrigieren und kritzelt daneben: «viel mehr!» «nur 200 g!» «nur 15 Min!».
Dabei ginge es ganz befreit – ohne Rezept. Kochbuchautor Claudio Del Principe hat das Kochen dort gelernt, wo keine Bücher im Regal stehen: bei den italienischen Frauen. «Die italienische Küche ist in Frauenhand», sagt Del Principe. Der Geschmack eines Gerichtes wird von Generation zu Generation weitergegeben, ohne Rezept. «Es ist eine intuitive Küche. Ganz anders als die französische, wo die Chefs de Cuisine jedes Gramm im Rezept festhalten», sagt Del Principe.
Dabei lerne man nur kochen, wenn man täglich abschmecke, schnuppere, fühle. So entwickle sich ein Gespür für die richtige Dosis Hitze, Säure, Salz und Fett. «Kochen ohne Rezept ist wie Velofahren ohne Stützrädli», sagt Del Principe, «die Balance gelingt erst mit der Zeit.»
Es gibt zwei Überzeugungen, wie man Improvisieren lernt: Peter Knogl von «Les Trois Rois» in Basel findet, es sei wie bei der klassischen Musik, man müsse das Kochen von Grund auf lernen und erst dann improvisieren. Claudio Del Principe findet: «Man kann sich herantasten.» Er kaufe mit seinen Kindern zum Beispiel unterschiedliche Tomaten und lasse sie kosten: roh, mit etwas Salz, mit Öl, gekocht. «So gewinnt man Sicherheit und lernt, wie die Zutaten verschieden schmecken können.»
Auf einem Biobauernhof stiess Claudio Del Principe auf blaue St. Galler Kartoffeln und plante Stock oder Gratin. Am Ende gabs blaue Gnocchi, dazu ein Ragout mit Wursträdchen und Béchamelsauce. «Aus nichts wurde ein Wahnsinnsgericht. Das beeindruckt mich immer wieder an der cucina povera, der Armeleuteküche.»
Saisonal und regional. Das ist Del Principes erste Devise. «Da weiss man, was man hat.» Und zweitens stützt er sich auf die drei Sättigungssäulen der italienischen Küche: Pasta, Risotto, Polenta. «Diese Gerichte ermöglichen unzählige Kombinationen mit Gemüse oder Hülsenfrüchten. Das ergibt echten Soulfood.»
Ohne Rezept geht beim Einkaufen eher einmal etwas vergessen. Das ist eine Chance. «Es gibt immer viele Möglichkeiten, auszuweichen. Ich liebe die kleinen Küchenunfälle, denn sie bringen mich weiter.» Als Rahm-Ersatz eignet sich zum Beispiel mit Milch verdünnter Frischkäse oder Crème fraîche. Oder man löst Butter, Milch, Mehl und Parmesan zu einer Béchamel-Sauce auf.
Für den Winter empfiehlt Del Principe, Rotkohl zu kaufen und zuerst einmal roh zu kosten. Danach entsteht mit Granatäpfeln, Orangenstücken und Honigdressing ein farbiger Salat. Oder man dämpft den Rotkohl und füllt damit Ravioli oder fügt ihn dem Risotto bei.
... sondern eine Zutat für zehn Rezepte. Beschäftigen Sie sich mit einem Lebensmittel und dessen Möglichkeiten. Dann stapeln sich im Küchenschrank auch nie die geöffneten Päckchen. Es gibt spannende Varianten sogar bei Blumenkohl, gerade das Lieblingsgemüse der Spitzenköche. Erste Variante: Blumenkohl raffeln, in einer Essig-Wasser-Mischung mindestens eine halbe Stunde lang einlegen, roh geniessen. Zweite Variante: Die eingelegten Krümel in Butter rösten und als einzigartiges «Paniermehl» verwenden. Dritte Variante: weichkochen, pürieren. Blätter blanchieren und in Öl schwenken.
Man soll sich für ein Kraut entscheiden, das dem Gericht den Charakter gibt. Mehr Gewürze machen es nicht besser. Del Principe schlägt vor, einen Gratin viermal zu kochen, einmal mit Lorbeer, einmal mit Thymian, einmal mit Rosmarin, einmal mit Salbei. «So findet man sein Lieblingskraut. Im Mix findet man es nicht heraus.»
Herantasten heisst wiederum die Lösung. Kosten während des ganzen Kochprozesses. Wer gemäss Rezept einfach die Messerspitze Zimt oder ¾ EL Salz hineinkippt, hat am Ende ein Gericht, das entweder gut oder schlecht schmeckt - ohne dies noch gross ändern zu können. Del Principes liebste Mengenangabe ist quanto basta (wenn es genug ist). Er hat sich früher über die Mutter geärgert, die nicht mit der Dosis oder Zeitdauer herausrückte, bis er merkte: «Man muss es wirklich spüren.»
Das zeige ihm deutlich der Sauerteig: Er kann nach 24 oder erst nach 48 Stunden fertig sein. «Der einzige Indikator ist der Blick.» Allerdings gibt es eine zweite Wahrheit: Es gibt viel Spielraum, wie viel Würze gut sind oder wie lange etwas dauert. Jeder findet seinen Weg. So wie die fünf Tanten von Del Principe, deren Sugo fünf Mal anders schmeckten. Er liebte sie alle.
Man soll die Zeit als eigene Zutat begreifen und eher mehr als weniger zugeben. Broccoli könne man durchaus einmal zu Brei verkochen. «Mit Knoblauch, Peperoncino, Olivenöl, Schafskäse ergibt das ein absolut wahnsinniges, süssliches Gericht. Was die Zeit machen kann, ist eine Offenbarung, nicht nur beim Fermentieren.»
Es ist eine Binsenwahrheit, dass Fett der beste Geschmacksträger ist. Del Principe nimmt meist Olivenöl statt Butter, und zwar kaltgepresstes - sogar fürs Braten. Wegen der ungesunden Transfette macht er sich keinen Kopf, er brate nie über 165 Grad. Und beim Öl sparen ist keine Option, er preist dafür die ungesättigten Fettsäuren, die den Organismus stärkten.
Ideologisch gibt es keine Verbote. Also darf man der Carbonara-Sauce durchaus Rahm beigeben. Ruinieren kann man Lebensmittel aber schon. Zum Beispiel wenn man die abgetropfte Pasta einfach auf den Teller gibt und Sauce darüber klatscht. Stattdessen tue man die Pasta zurück in die Pfanne, schwenke mit etwas Kochwasser und kurz auf hoher Stufe durch. Das hat denselben Effekt wie das Andünsten von Risotto. Danach Pasta und Sauce in der Pfanne mischen. Das braucht weniger Sauce und schmeckt dennoch intensiv.
Werde ich nach dem Rezept gefragt, ist es immer von meinner grosmutter.