Vielleicht gibt es diesen Film ja, weil sein Regisseur am Rand von Basel aufgewachsen ist. Denn in und um Basel ist das Wirken von Freikirchen ein bisschen reger als anderswo. Ich bin am gleichen Rand von Basel ins Gymnasium gegangen. Gelegentlich begleitete ich meine Freikirchen-Freundinnen zu ihren Gottesdiensten. Aus Neugier. Weil ich sowas Spektakuläres sonst nie zu Gesicht bekam.
Da waren Erwachsene, die in einer Reihe in einen Taufteich stiegen, untertauchten, triefend nass und erleuchtet zurück kamen. Erwachsene, die sich tränenüberströmt wild predigenden Menschen in die Arme warfen und jauchzten: «Ich hab Jesus gesehen!» Die Existenz des Teufels, die nie bestritten, sondern allenthalben bekräftig wurde. Ich konnte das alles nicht glauben. Für meine Freundinnen gehörte es zu den Grundpfeilern ihres Glaubens.
Der Glaube ermöglicht alles. Auch verrückte Erzählungen, die es sonst, für Ungläubige, nur im Märchen gibt. Oder in der Bibel. In der Fiktion. Im Film. Man nennt die entsprechenden Genres Fantasy, Mystery, Horror oder Magischer Realismus. Sie sind enorm populär. Weil sie beim Publikum die Leerstelle füllen, die der abhanden gekommene Glaube zurückliess? Genau damit experimentiert Simon Jacquemet nun in seinem Freikirchler-Psycho «Der Unschuldige».
Auf der Oberfläche ist das Leben von Protagonistin Ruth (die grossartige Judith Hofmann) eine Mélange aus Grau und Routine. Sie ist die Mutter einer vorbildlichen Christenfamilie, die auch zuhause unentwegt betet und Taizé-Lieder zur Gitarre singt. Die ältere Tochter besucht Christenrock-Konzerte, gemeinsam gehen sie zu Gottesdiensten in vorstädtischen Mehrzweckhallen. Ruth ist Tierärztin in einem Versuchslabor, einem entzweigeschnitten Affen wird der Kopf eines andern transplatiert. Ruth betet für seine Genesung.
Der Affe ist der eine Unschuldige. Die Kreatur, in deren Schöpfung der Mensch unter dem Vorwand der Wissenschaft brutal eingegriffen hat. Ein Frankensteinscher Akt. Real. Die Frage ist: Kann der Akt am Affen wieder rückgängig gemacht werden? Schafft Ruths Gott das? Immer wieder verlangt sie von ihm Zeichen und Wunder. Ungeduldig.
Der zweite Unschuldige heisst Andi. Eigentlich ist er tot. In Indien von einem Stromschlag niedergestreckt. Zuvor jedoch wegen Raubmord verurteilt. Andi war vor 19 Jahren mal Ruths Verlobter. Sie glaubte damals an seine Unschuld. Das war vor dem Christentrip. Jetzt erscheint Andi Ruth wie der liebe Leibhaftige. Oder wie Jesus? Er «hilft» ihr, erlöst sie vom Grau, sie haben Sex, die fleischliche Befriedigung macht, dass Ruth eine Selbstkasteiungs-Phase von rabiatem Vegetarismus wieder abbricht (sie «beerdigte» jeweils das Fleisch, das im Kühlschrank auf die Zubereitung wartete).
Ist Andi Einbildung oder doch mehr? Und wenn mehr, wieso auch nicht? In einem religiösen Setting, das von Auferstehungen nur so wimmelt, sollte das doch schliesslich möglich sein.
Plötzlich ist Ruths Welt voller Sex: Im Wald findet sie ihre Tochter in einer Orgie, sie selbst muss ausgerechnet in einem Swingerclub in einen Pool steigen, um sich von ihrem Spleen zu reinigen. Um vom Höllenfeuer der Begierde wegzukommen, wird ihr quasi wie bei einer Impfung eine Portion des Erregers verabreicht. Ihr Mann und ihre Kirche sind sich nämlich sicher, dass Ruth vom Teufel besessen ist. Die Folge? Exorzismus natürlich. In einem komplett irrationalen System total logisch. Das einzig Richtige.
Ruth selbst zeichnet sich in all dem durch einen jeden Irrsinn noch übersteigende Sturheit aus. Unbeirrbar in ihrer Unberechenbarkeit. Eine Figur, wie man sie im Kino selten sieht. Und weit origineller als alles, was Simon Jacquemet an crazy Ideen vor vier Jahren in seinem Debüt «Chrieg» zeigte. Jenem Film über aggressive Jugendliche, die auf einer abgelegenen Alp zwecks Zähmung in Hundekäfige gesperrt werden.
Visuell war «Chrieg» spektakulärer als «Der Unschuldige». Dafür ist dieser verrückter. Sehr viel verrückter. Ruth, Gottes Werk und Teufels Beitrag sorgen für verblüffend groteske Unterhaltung. Vom Affen ganz zu schweigen.
«Der Unschuldige» (104 Minuten) läuft ab 1. November im Kino.