Die Kinos serbeln und darben, weil die grossen Studios ihre möglichen Blockbuster wie «No Time to Die for» oder «Dune» aufs nächste Jahr verschieben. An der amerikanischen West- und Ostküste sind die Kinos nämlich geschlossen, und ein vorgezogener Europastart ist unvorstellbar. Die Streamingwelt boomt dagegen fröhlich. Die überhitzte Wundertüte Netflix liefert unter anderem diese drei Eigenproduktionen. Mit «The Trial of the Chicago 7» hofft Netflix, den Oscarerfolg von «Roma» zu wiederholen. Und wie «Roma» läuft der Film zuerst im Kino.
Es gibt Filme, für die möchte man gern noch einmal Kind sein. Noch einmal hemmungslos bei den Abenteuern seiner Heldinnen und Helden mitfiebern, sie in Gedanken zu seinen besten Freunden machen, sich bei jedem Essen überlegen, was vom eigenen Teller ihnen wohl schmecken würde, sich beim Einschlafen wünschen, in ihrer Zeit zu erwachen und mit ihnen auf weitere Abenteuer zu gehen ...
«Enola Holmes» ist einer dieser Filme. Ein schamloses Spin-Off aus dem Sherlock-Holmes-Universum, aber dies umso frischer und genüsslicher. Millie Bobby Brown, wahrscheinlich das erschütterndste Schauspiel-Talent im Stall von Netflix überhaupt, ist Enola, die kleine Schwester von Sherlock und Mycroft und vor allem die wilde Tocher ihrer angeblich wilden und gefährlichen Mutter (Helena Bonham-Carter). Eine Mutter, die ihr jeden Nachmittag statt Nähen oder Sticken Martial Arts beibringt. Und plötzlich verschwindet.
Enolas Muttersuche wird zu einem amüsanten und hochspannenden Trip durch das viktorianische England samt seines Klassensystems und allerlei gesellschaftlicher Umwälzungen. Schnell, scharfzüngig und so umwerfend lebendig, wie man schon lang keinen Film mehr sehen durfte. Dass Millie Bobby Brown und ihre ältere Schwester sich zu Produzentinnen von «Enola Holmes» aufgeschwungen haben, war für die Energie des Projekts gewiss auch nicht von Nachteil.
Der Drehbuchautor, Produzent, Regisseur und allgemeine Erfinder Ryan Murphy ist sowas wie das Kernkraftwerk unter den Serienmachern. Er hatte in den Nullerjahren mit der Schönheitschirurgenserie «Nip/Tuck» seinen Durchbruch, es folgten unter anderen «Glee», «American Horror Story», «The Politician», «Hollywood» und jetzt «Ratched».
Murphys Rezept: Serien machen, die knallen und in denen Vieles und Viele irrsinnig gut aussehen. Das Dekor wird zum Fetisch. Murphys Problem: Seine Ideen sind meist etwas halbgar, streckenweise genial, dann wieder zusammengeschludert, dass man sich fragt, wieso hier wohl abartige Mengen von Geld verlocht wurden. Trash as trash can. Zuweilen hyperintelligent, dann wieder völlig planlos. Aber: fabelhaft besetzt und immer irgendwie unterhaltsam.
So auch «Ratched», die Geschichte der rachsüchtigen Psychiatrieschwester Mildred Ratched (bekannt aus «Einer flog über das Kuckucksnest»). Das ist ein Mosaik aus allem, was bei Hitchcock, David Lynch oder Douglas Sirk toll aussieht. Sarah Paulson als «Ratched» ist der perfekte, undurchschaubare und überstylishe Todesengel und Cynthia Nixon spielt eine Frau, die sich in Ratched verliebt (was leider sehr durchschaubar ist, schliesslich besetzt Murphy schwule Rollen mit schwulen Schauspielern und lesbische mit Lesben).
Eine komödiantisch entfesselte Sharon Stone will ebenfalls Rache, und es wird verstümmelt, lobotomisiert und gemetzelt, dass jeder Sadist danach süsse Träume haben wird. Im Grunde ein Fest, nur leider hält Murphys Team (er selbst war nur der «Creator», also der Ideenlieferant) das interessant verrätselte Spiel der ersten Episoden nicht eine Staffel lang durch, und das Finale ist geradezu ärgerlich verbockt.
Nach «Molly's Game» ist dies die zweite Regiearbeit von Aaron Sorkin. Der als Drehbuchautor ja sowas wie ein Heiliger ist, seit er uns in «West Wing» minutiös erklärte, wie das Weisse Haus so funktioniert. Und auch der Oscar für sein Drehbuch zu David Finchers «The Social Network» war mehr als gerechtfertigt. Denn Sorkin ist der Mann, der komplexe Sachverhalte in aufregende Dialoge umzusetzen weiss.
So auch in «The Trial of the Chicago 7», dem Netflix-Film, der jetzt, vor seinem Streaming-Start am 16. Oktober, verdienstvollerweise im Kino läuft und vielleicht den einen oder andern Saal zu füllen vermag. Denn «Chicago 7» ist ein packender Film mit Traumbesetzung (Sacha Baron Cohen, Mark Rylance, Joseph Gordon-Levitt und Eddie Redmayne, der sich einiges an Volumen antrainiert hat), der zwar 1968/69 spielt, aber brandaktuell ist.
Im Anschluss an den Parteitag der Demokraten in Chicago 1968 kam es im September 1969 zu einem Prozess gegen sieben Weisse und einen Schwarzen. Die Weissen hatten Anti-Vietnam-Proteste während des Parteitags organisiert, der Schwarze hatte eine Rede gehalten. Nur der Schwarze wird gefesselt in den Gerichtssaal geführt und später gefoltert, die Geschworenen werden gezielt gegen ihn beeinflusst.
Die Weissen kommen aus verschiedenen Gruppierungen, da ist der öffentlichkeitsgeile Hippie (Baron Cohen) oder der ernste Student mit marxistischem Hintergrund (Redmayne). Die Angeklagten versuchen zu beweisen, dass der Prozess politisch manipuliert wird, was zwar stimmt, ihnen aber nichts nützt. Denn was sie nicht wussten, war, dass sie bereits während der Protestvorbereitungen von Undercover-Cops beschattet wurden. Die Beweise sind erschlagend. Alle werden zu Haftstrafen verurteilt. Einer von ihnen wird 1982 ins kalifornische Parlament gewählt.
Aaron Sorkin schreibt und inszeniert den frustrierenden Kampf, den die jungen Leute da führen, historisch detailgetreu und mit seiner üblichen rhetorischen Fesselkunst. Es ist ein Kampf gegen einen Staat, der willkürlich Tausende junger Amerikaner in den Krieg und den Tod schickt. Die Menschlichkeit ist auf der Seite der Rebellen. Das Recht ist es nicht.
Ansonsten aber wirklich unterhaltsam.