Wäre Auto-Tune der Balzruf eines in der Natur tatsächlich vorkommenden Tieres, wäre seine Spezies binnen zwei Wochen ausgestorben. Nicht, weil kein einziges Weibchen sich mit diesen Helden hätte paaren wollen, sondern weil es nur die heillos degenerierten unter ihnen täten, was dann in dritter Generation zu sofortiger Lebensunfähigkeit geführt hätte.
Nun ist es aber leider so, dass es sich bei jenen Notzüchtigern unserer Hörorgane um Menschen handelt. Menschen, die ihre eigenen, in der Mehrheit wohl verkümmerten Stimmchen freiwillig und unaufhörlich mit jenem Höllen-Instrumentarium zu verzerren pflegen. Eigenmächtig zählen sie sich zur Gattung «Musiker» und fabrizieren «Songs», die dann reihenweise in den «Charts» landen.
Um nun auch euch ordentlich in den Zustand des Zornes zu versetzen, will ich euch bitten, diesem ziemlich willkürlich gewählten Hörbeispiel zu lauschen. Ich habe es einer Spotify-Playlist mit dem vertrauenerweckenden Namen «Charts 2019!» entnommen. Das Ausrufezeichen soll uns wohl davon überzeugen, dass die sich darin befindlichen Lieder ihren Rang auch tatsächlich verdient und sie sich keinesfalls hochgetunt haben ...
Als Cher es machte, war es noch cool. Weil sie eine der ersten grossen Nummern war, die diese automatische Tonhöhenkorrektur nicht zur Berichtigung einzelner schiefen Noten brauchte, sondern als Verfremdungseffekt.
Den Verfremdungseffekt wiederum kennt der Literaturfreund aus Bertolt Brechts epischem Theater.
Wer jetzt findet, Mann Rothenfluh, was kümmert mich dieser Typ, dem sei hier ein Zitat von ihm gegeben:
Auf diese Weisheit muss man erst mal kommen in einer Welt noch so schön frei von Auto-Tune.
Ja, der Zweite Weltkrieg hat sicherlich auch gewisse ...
Guuut.
Brecht hat also den Verfremdungseffekt erfunden. Und zwar, weil er es satt hatte, dass man, wie im griechischen Theater üblich, einfach so ein bisschen mit den Figuren mitlitt. Er wollte, dass die Leute auch nachdenken. Und damit beginnen sie gemeinhin vor allem, wenn man ihre Realität so entstellt, dass sie sie nicht mehr als solche erkennen. Das Vertraute erscheint plötzlich verfremdet, das Heimelige unheimlich, und so bekommt der Zuschauer die Distanz, die er braucht, um die gesehenen Dinge kritisch zu deuten.
Eine Denkkatharsis sozusagen, das war das, was Brecht wollte.
Wenn es nun aber mit dieser Verfremdung zu weit getrieben wird – also so, wie dies aktuell mit Auto-Tune geschieht –, wenn er in jedem Song über jede Stimme wabert, dann passiert das exakte Gegenteil: Der Zuhörer hat die Ohren gestrichen voll davon. Er hört es ständig und überall. Er wird damit gefoltert, und zwar jedes Mal, wenn er auf die absurde Idee kommt, das Radio anzudrehen.
Wer wünscht sich da nicht sehnlichst das Wachs des alten Odysseus herbei! Oder gleich eine riesige Axt, mit der man alle Auto-Tunes-Maschinen dieser Welt zerhacken kann!
Jegliche Distanz zum Gehörten ist verloren und die Kritik an der Realität erschöpft sich darin, dass man über den Verfremdungseffekt selbst flucht und der Welt den sofortigen Untergang an den Hals wünscht, oder gar innigst davon träumt, sie eigenhändig zu erwürgen, sodass dieses vermaledeite Verzerrungsgedröhn allmählich in ein wohltuendes Röcheln übergeht, das vom letzten lachhaften Versuch zeugt, sich an ein parasitäres, unwürdiges Leben zu klammern. Noch japst es und zittert dem Jenseits entgegen – dann endlich ist es still.
Ende des Schmierentheaters.
Ich hab immer gedacht, wenn jemand den Weltfrieden bringen kann, dann sei das die Musik. Jetzt lösen die abertausend mit Auto-Tune vergewaltigten Songs nur noch reichlich bedenkliche Aggressionen in mir aus.
Ich verlange ja nicht, dass Musik einen didaktischen Nutzen haben muss wie Brechts Theater. Auch wenn es sicher nicht geschadet hat, dass Tic Tac Toe zu meiner Zeit das Kondom zelebrierte.
Musik muss die Menschen nicht zum Nachdenken bringen. Aber hätten gottverdammt die Auto-Tune-«Musiker» ein Fünklein Verstand, wäre ihnen vielleicht aufgefallen, dass im Wort Verfremdungseffekt nicht nur Verfremdung danach schreit, nicht die gesamte Realität damit zu überlagern, sondern auch Effekt etwas ist, das von Natur aus nur funktioniert, wenn sparsam damit umgegangen wird.
Das sind zwei Hinweise in einem Wort, das aus zwei Wörtern besteht.
Wie viele Hinweise braucht ihr denn noch?
Und hätten gottverdammt einige jener «Musiker» neben ihrer Talentlosigkeit wenigstens ein Fünklein Einsicht, müssten sie zugeben, dass das ganze Getune als Kompensationsleistung dieser Grössenordnung rein gar nichts taugt.
Aber vor lauter Verfremdung sehen sie die Realität natürlich nicht mehr. Dafür umtost sie umso heftiger unsere feinen Ohren! Herrgott, muss man euch wirklich sagen, dass es mit Malen nach Zahlen auch noch niemand ins Museum geschafft hat?
Wenigstens wissen wir nun, warum die Generation, die vor einem solchen «musikalischen» Hintergrund aufwachsen muss, kolossal verkorkst sein wird.
Verzerrt doch gleich noch die Klänge einer Panflöte mit Auto-Tune, unterlegt das Ganze mit einem lüpfigen Reggaeton-Beat, unterbrochen nur von auserlesenen lieblichen Delfin-Gesängen, lasst zuletzt Sabrina Setlur drüberrappen und wartet dann darauf, dass die Selbstmordrate steigt.