Ich gestehe, ich habe mich vor Ihrem Film gefürchtet. Wenn ich an Indien und Frauen denke, sehe ich immer grausame Vergewaltigungen vor Augen ...
Rohena Gera: Oh ja!
Sie haben sich aber entschieden, ein Frauenschicksal mittels der indischen Klassengesellschaft zu erzählen. Auf den ersten Blick ist es die ganz normale Geschichte eines Dienstmädchens. Was alles an Erniedrigung dahinter steckt, erfahren wir sehr subtil. Wie fanden sie zu dieser Geschichte?
Rohena Gera: Sie setzt sich aus hunderten von kleinen Geschichten zusammen, die ich so in meinem Leben erfahren habe. Ich komme selbst aus einer
privilegierten Familie. Als ich ein Kind war, gab es da diese Frau, die alles für mich gemacht hat. Wenn du
in Indien Geld hast, tust du nichts, auch nicht als Kind, du räumst nie deinen
Teller weg, wäschst nichts ab, alles wird erledigt. Ich hatte sie sehr gern, als Kind durfte ich sie auch noch umarmen, später war das verboten, Körperkontakt zwischen den Klassen ist unmöglich. Wenn wir zusammen Tee tranken, durfte sie nicht wie ich aus einer
Porzellantasse trinken, sie durfte nicht mit mir am Tisch sitzen und wurde von den
Erwachsenen schlecht behandelt. Ich schämte mich dafür.
Tillotama Shome, wie stehen Sie zu dem Thema?
Tillotama Shome: Ich lebe erst seit
viereinhalb Jahren in New York, ich bin in Indien aufgewachsen. Und ich bin überwältigt von einem glasklaren
Schuldbewusstsein. Auch ich habe das System, das unser Film kritisiert, mitgetragen. Unsere Klassengesellschaft
erzeugt eine unsichtbare Sklaverei. Als ich nach New York kam, jobbte ich als
Kellnerin und hatte damit überhaupt kein Problem, alle an meinem College
machten das, in jedem Job liegt Würde. Aber in Indien ist die Möglichkeit einer
klassenübergreifenden Freundschaft ein unglaubliches Tabu. Und wir erkennen es
gar nicht als Problem, weil wir so sozialisiert worden sind.
Das klingt schwer nachvollziehbar.
Tillotama Shome: Wir benennen Rassismus, wir haben
eben erst Homosexualität entkriminalisiert, aber den Klassengraben sehen wir
nicht, der ist ganz tief in uns drin. Der ist wie die Haut auf meinem Rücken –
sie ist da, aber ich seh sie nicht. Oder so, wie ich meine Nase nicht
wahrnehme, wenn ich geradeaus schaue. Ich bin mit dafür verantwortlich.
Rohena Gera: Ich sage immer: Das ist wie der
Rassismus in den USA der 50er-Jahre. Mit dem Unterschied, dass in Indien
niemand darüber redet, niemand dagegen kämpft und keine Bürgerrechtsbewegung
existiert. Gerade weil es sich nicht um ein Problem handelt, das sich an einer
Hautfarbe festmachen lässt. Es ist unsichtbar. Und die Menschen, die davon
betroffen sind, sind unsichtbar.
Obwohl sie mit Ihnen unter einem Dach leben?
Rohena Gera: Ich googelte in Indien «Servant’s
room», weil ich unserem Ausstatter zeigen wollte, wie das Zimmer meiner
Protagonistin aussehen muss – es gibt keine Bilder. Die meisten
Hausangestellten besitzen auch kein Zimmer, sie rollen abends in der Küche ihre
Matte aus und rollen sie am Morgen wieder zusammen. Ihre Privatsphäre existiert
nicht.
Okay, langsam beginne ich zu verstehen, wie
gross das Tabu sein muss, an das Ihr Film in Indien rührt.
Tillomata Shome: Ich googelte
«Liebesgeschichte zwischen einem Mann und seiner Hausangestellten». Alles, was
ich fand, waren Pornos. Nur so ist in Indien eine klassenübergreifende
Liebesgeschichte überhaupt vorstellbar.
Rohena Gera:
Über die Erniedrigung der Frau.
Soziale Ungleichheit wird also direkt als sexuelle Unterwerfung übersetzt.
Tillotama Shome: Ja. Und ich bin sehr
gespannt, wie der Film in Indien aufgenommen werden wird. Wie auch immer die
Leute darauf reagieren, es wird viel über sie selbst erzählen. Wenn einer sagt: «Bullshit, das ist reine Fantasie, sowas gibt’s gar nicht!», dann sag ich: «Okay,
gut zu wissen, dass du so denkst.»
Rohena Gera: Ich hoffe, dass die Menschen,
denen ich diesen Film widme, danach nicht noch frustrierter sind als vorher. Ob
sie nicht sagen: Danke, dass du uns an unser Elend, das wir nicht ändern
können, erinnert hast.
Wieso haben Sie sich eigentlich entschieden,
dieses Thema der Klassenbarriere als Liebesgeschichte aufzubereiten?
Rohena Gera: Ich wusste nicht, wie ich darüber
reden sollte, ich hatte keine Lösung. Ich wollte den Leuten nicht predigen, was
sie denken sollen, ich wollte auch nicht sagen, hey, ich bin eine gute Person,
deshalb mach ich sowas. Aber ich fragte mich: Wie kann ich das Thema am besten
angehen? Indem ich zwei Leute ebenbürtig mache. Das geht in der Liebe.
Gut, sozial gesehen sind sie dadurch noch lang
nicht ebenbürtig, aber wenigstens emotional.
Rohena Gera: Genau! Egal, wie reich du bist,
wie schön dein Haus, wie gross dein Wagen auch sein mag – wenn dich die
Frau, die du liebst, nicht zurück liebt, bist du verloren. Dadurch konnte ich
meine Protagonistin mächtig machen.
Die Protagonistin ist die Dienerin eines
reichen Mannes, den sie «Sir» nennt. Wie sehr haben Sie sich selbst mit diesem
Sir identifiziert? Schliesslich kommen Sie auch aus einer reichen Familie und
haben wie er in den USA studiert.
Rohena Gera: Sehr!
Das heisst, Sie haben sich schon mal in Ihren
indischen Concierge verliebt?
Rohena Gera: Nein, das nicht.
Besonders schlimm fand ich auch, wie Ratna,
die ja schon mit 19 Witwe wurde, aus der Dorfgesellschaft, aus der sie kommt, ausgestossen wird.
Rohena Gera: Ach, das ist auch in der Stadt
so. Und in meiner angeblich so fortschrittlichen Schicht. Als der Vater eines
Freundes starb, war seine Mutter erst 41. Das war vor 25 Jahren. Seither ist
sie nie mehr mit einem Mann allein gewesen. Ihr Leben hörte auf. Liebe, Sex, Begehren,
das Bedürfnis nach Partnerschaft ist alles untersagt, sie ist jetzt nur noch
Mutter. Und sie hat so viel Angst vor dem Urteil der andern, dass sie gehorcht.
Tillotama Shome: Die normalsten Dinge werden
zu einem Akt des Widerstands. Als mein Grossvater starb, wurde von meiner
Grossmutter erwartet, dass sie bis an ihr Lebensende nur noch Weiss trägt.
Farben zu tragen, gehört sich für eine Witwe auch nicht. Und Fleisch
essen. Sie soll Weiss tragen und sich vegetarisch
ernähren.
Ich müsste sterben!
Tillotama Shome: Das ist total normal! Mein
Grossvater sagte zu meiner Grossmutter: Wenn ich vor dir sterbe, tu das bitte
alles nicht. Weshalb sie wenige Tage nach seinem Tod im farbenprächtigsten Sari
erschien. Natürlich hiess es in der Familie: «Aha, sie hat ihren Mann nie geliebt!»
Rohena Gera: Für mich ist das Schlimmste, dass
es sich bei alledem um ganz patriarchale Strukturen handelt, und dass die
Frauen kooperieren, anstatt sich dagegen aufzulehnen.
Tillotama Shome: Die Leute sagen zu meiner Mutter:
«Wow, dein Mann macht selbst Frühstück? Du hast einen guten Mann geheiratet! Er
ist wie ein Gott!» Aber hey, meine Mutter kocht das Mittag- und Abendessen! Und wenn ein männlicher Bollywoodstar mal ausnahmsweise rechtzeitig zum Dreh erscheint, wird ihm den ganzen Tag über gehuldigt. Nichts ist normal. Und man muss sich immer fragen: Mach ich selbst alles
richtig oder trete ich nicht andauernd in irgendeine Klischeefalle?
Jetzt, da Sie Ratna gespielt haben, fühlen Sie
sich etwas von ihrem Schuldgefühl erlöst?
Tillotama Shome: Sicher nicht. Aber ich geh bewusster
durchs Leben. Auch an einem Filmfestival wie diesem achte ich jetzt sehr viel
mehr auf all die Leute, die mir helfen,
die meine Haare machen, mich anziehen, mich im Restaurant bedienen. Am Ende bin
ich ein Teamwork.
Wie hart ist es eigentlich eine indische
Filmemacherin zu sein? Nehmen Sie da Sexismus wahr?
Rohena Gera: «Sir» ist mein erster Spielfilm,
davor habe ich einen Dokumentarfilm gedreht und ich glaube, jeder Debutfilm
hat es speziell schwer. Aber es ist schon so: Wenn die Entscheidungsträger eine
Geschichte nicht sofort verstehen, wird sie schneller fallen gelassen, wenn sie
von einer Frau kommt. Und ich habe vor «Sir» ein Projekt vorgestellt, da hiess
es schon nach einem Satz: «Aber du machst ja eine Frau zur Hauptfigur! Sowas
interessiert keinen.»
Tillotama Shome: Ich kannte Rohenas Dokfilm
nicht, ich las bloss ihr Skript zu «Sir» und konnte es nicht mehr weglegen. Und
dann hatte ich Angst. Als Schauspielerin will ich ja immer eine richtig grosse
Rolle. Aber da dachte ich: Okay, die ist vielleicht doch zu gross? Könnte ich
nicht die zweitgrösste spielen?
Sie sind in jeder einzelnen Einstellung.
Tillotama Shome: Wir drehten 31 Tage lang ohne irgendeine Pause. Aber ich dachte immer: Egal, wie hart meine Arbeit gerade ist, Ratnas Leben und das unzähliger indischer Frauen ist härter. Nach Drehschluss kann ich in meinen klimatisierten Wohnwagen und mir meine Zigarette rollen. Das Wenigste, was ich tun kann, ist meine Arbeit mit Würde zu erledigen. Wie Ratna. Sie besitzt nichts ausser sehr viel Würde. Jede Erschöpfung, die ich für sie auf mich nehme, ist eine gute Erschöpfung. Ich habe Glück.
«Sir» am ZFF: Do, 4.10., 19.15 Uhr, Arthouse Picadilly; So, 7.10., 20.30 Uhr, Arthouse Le Paris.
Und ab 8. November im Kino.