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Essstörung: Wie Freunde und Familie ungewollt meine Bulimie verschlimmern

Wie Freunde und Familie ungewollt meine Essstörung verschlimmern

Mareike Jenkowski (Name von der Redaktion geändert) mochte von klein auf nur Süsskram und Fast Food – und musste sich deswegen immer wieder Sprüche von Freunden und Familie anhören. Schliesslich traute sie sich nur noch heimlich zu essen, was sie mochte. Isolation und Scham trugen dazu bei, dass Mareike bulimisch wurde. Ein besonderes Erlebnis half ihr dabei, ihre Krankheit in den Griff zu bekommen.
17.09.2019, 13:2218.09.2019, 06:08
Mareike Jenkowski
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Bild: shutterstock

Schon mit drei Jahren habe ich mich absichtlich übergeben. Das behauptet zumindest meine Mutter.

Wann genau es anfing – daran erinnere ich mich nicht mehr. Seit jeher spielte sich allerdings folgende Situation bei uns zu Hause ab: Jedes Mal, wenn meine Eltern mich mit etwas füttern wollten, das ich nicht kannte, machte ich erst einmal einen Aufstand, musste das Essen dann doch in den Mund nehmen, spürte den fremden Geschmack und die ungewohnte Konsistenz. Ich fühlte, wie sich mir der Speichel im Mund sammelte, die Tränen in die Augen schossen, der Magen verkrampfte. Und dann musste ich brechen.

Meine Bulimie fing schon im Kindesalter an

Ich war schon immer ein nervöser Esser. Was ich nicht kannte, machte mir Angst. Umso mehr tat mir Nahrung seelisch gut, zu der ich nicht überredet oder gezwungen werden musste: Chips, Schokolade, Pommes – alles Ungesunde eben.

Schon im Grundschulalter musste ich lernen: Das, was ich gerne esse, ist schlecht. Später sollte ich lernen: Dass man so viel ungesunden Kram isst, ist gar nicht so schlimm. Man kann das wiedergutmachen. Indem man sich den Finger in den Hals steckt.

Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist Essen eine recht komplizierte Angelegenheit. Eigentlich sollten wir alle Ernährungsexperten sein. Schliesslich nehmen wir alle täglich Nahrung zu uns. Mehrmals. Mal bewusst, mal beiläufig. Mal mit anderen zusammen, mal allein. Mal gesund, mal ungesund. Aber im Prinzip weiss jeder, wie es geht: Mund auf, Essen rein, kauen, schlucken, fertig.

Wenn Essen Angst macht – 14 sehr spezifische Food-Phobien

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Wenn Essen Angst macht – 14 sehr spezifische Food-Phobien
1. Alektorophobia: Freilich sind alle hier aufgelisteten Phobien eher selten. Alektorophobia, etwa, ist die Angst vor Hühnern und Pouletfleisch.
quelle: chicken.ca / chicken.ca
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Schnell gehen wir davon aus, dass das bei allen Menschen genauso funktioniert. Das ist so wie Atmen – wenn du da deinem Instinkt nicht folgst, fällst du irgendwann tot um. Ähnlich ist das, wenn du nicht isst.

Und gleichzeitig ist Essen allerdings so etwas Intimes. Du tust etwas in deinen Körper rein. Du nimmst Nahrung mit all deinen Sinnen wahr. Und du reagierst vielleicht sensibel, wenn jemand dein Essverhalten kritisiert. Man denke nur mal darüber nach, welch erboste Diskussionen Vegetarier und Fleischesser zum Beispiel führen können.

Ich habe mich geschämt, vor anderen zu essen

Ich habe mich seit jeher für mein Essverhalten geschämt – und gleichzeitig lange Zeit nicht verstanden, woher diese Scham kommt. Als Kind bei Freunden zum Essen eingeladen zu werden, war der blanke Horror. Meistens habe ich mich nicht getraut, mitzuessen, weil ich Angst hatte, mich zu übergeben. Die Eltern empfanden mich dann als zu wählerisch oder gar undankbar.

Einmal gab es bei einer Freundin zu Hause Sauerkraut, das wollte ich nicht essen. Meine Freundin sagte, sie möge das auch nicht. Ich freute mich, weil ich nun eine Verbündete hatte – zumindest in Hinblick auf Sauerkraut.

Daraufhin sagte die Mutter zu mir: «Du hältst mal lieber den Mund, denn du magst nämlich gar nichts.»

Was bei Freunden Scham war, war zu Hause pure Verzweiflung. Bei uns wurde in der Regel nicht gemeinsam gegessen. Jeder nahm seinen Teller und zog sich an seinen Lieblingsort in der Wohnung zurück. Nur manchmal sagte mein Vater: «Nein, du bleibst zum Essen hier. Ich will sehen, wie du das isst.»

Wenn ich etwas nicht mochte oder es meinem Vater nicht schnell genug ging, fing er an, mich zu füttern. Und zwar so, wie es ihm passte. Er stopfte meinen Mund voll mit Essen, bis ich kaum noch kauen konnte. Mit Tränen in den Augen sass ich da, bis – manchmal nach Stunden erst – der Teller endlich leer war.

Dann durfte ich gehen und mich in meinem Zimmer allein trösten – mit Süssigkeiten und Erdnussflips.

Die Süsse oder das Salzige in meinem Mund. Das wohlige Gefühl, das sich in meinem malträtierten Magen ausbreitete. Die fettig glänzenden Finger, die ich genüsslich abschlecken konnte. Das waren mit die schönsten Momente zu Hause.

Essen war Liebe für mich

Jedes Mal, wenn meine Mutter vom Einkaufen zurückkam, freute ich mich auf die Überraschungen, die sie mitbrachte. Dann schnappte ich mir glücklich die Packung Schokoriegel und verzog mich in mein Zimmer. Essen war nicht nur Genuss. Essen war Liebe.

Und dann musste ich lernen, meine Liebe vor anderen zu verstecken. «Du kannst nicht immer nur Pommes essen», sagten die Eltern meiner Freunde abfällig zu mir. Später auch machten sich meine Freunde über mich lustig: «Du magst doch eh nur Fischstäbchen.» Also habe ich versucht, den Urteilen zu entkommen, und lieber allein gegessen. Je trauriger ich war, umso mehr habe ich gegessen.

Und dann habe ich gespürt, wie mein Körper sich verändert: Ich wurde runder, weiblicher. Ich war niemals dick – aber ich hatte Hüften, stramme Oberschenkel, einen runden Po. Alle anderen Mädchen in meiner Klasse waren eher knabenhaft. Mein Körper fühlte sich nicht richtig an. Seitdem ich zwölf war, wollte ich abnehmen. Aber wie sollte das funktionieren, wenn alles, was ich gern ass, dick machte?

Ich fing an, mehr Sport zu machen. Jeden Tag mindestens 100 Sit-ups, Kniebeuge, Liegestütze. Mit 15 probierte ich eine Diät aus – mit viel rohem Gemüse, weil ich kein gekochtes essen wollte. Ich ass so viele Karotten, dass mir übel wurde von der ungewohnten Menge an Rohkost und ich nachts aufwachte, weil ich mich übergeben musste. Ich träumte von Duplo-Riegeln, die ich unkontrolliert in mich reinstopfte – und wachte auf, um unkontrolliert Duplo-Riegel in mich reinzustopfen.

Es war bahnbrechend, als ich lernte, zu kotzen.

Es fiel mir nicht leicht, mich auf Kommando zu übergeben. Ich musste lange Zeit üben, bis ich das konnte. Aber irgendwann wusste ich, wie und was ich essen muss, um es hinterher wieder schnell loswerden zu können. Laut- und spurenlos. Erst unregelmässig, anfangs war es eher ein Experiment, was mein Körper kann. Dann regelmässig. Dann mehrmals täglich.

Bulimie ist eine widerliche Krankheit – ich ekelte mich vor mir selbst

Bulimie ist eine ekelhafte Krankheit. Ekel vor mir selbst brachte mich dazu, etwas Ekliges zu tun. Was ich tat, habe ich selbst entschieden. Was eklig ist, habe ich allerdings von anderen gelernt. Und meine Lehrer haben wahrscheinlich nicht gemerkt, dass sie meine Lehrer sind – weil sie es immer gut mit mir meinten.

Bulimie ist eine heimliche Krankheit. Wir glauben immer, sehen zu können, wenn jemand eine Essstörung hat. Wir haben Bilder vor Augen von ausgemergelten Mädchen, die aussehen wollen wie Supermodels. Aber Bulimie kann auch das nette Mädchen mit den stämmigen Waden haben. Und dann merken wir nicht, wie sehr wir ihr mit unseren Kommentaren über ihr Essverhalten wehtun.

Bulimie ist eine unkontrollierbare Krankheit. Ich dachte, ich fresse und kotze, weil ich so meinen Körper kontrollieren konnte. Aber ich hatte die Kontrolle verloren. Und lange Zeit war es schwierig, sie wiederzugewinnen: Denn wie sollte ich mit Menschen über mein peinliches Essverhalten sprechen? Wie über mein Verlangen, mich zu übergeben? Wie konnte ich überhaupt wieder mit anderen Menschen gemeinsam essen? Denn mein Essverhalten isolierte mich – und Isolation begünstigt den Kontrollverlust.

Als ich gemeinsam mit einer Freundin zum ersten Mal kochte, veränderte sich alles

Erst später, als Erwachsene, lernte ich, gemeinsam mit anderen Menschen Freude am Essen zu finden. Ich erinnere mich an einen besonderen Moment mit einer Freundin, die den Moment wahrscheinlich als ganz alltäglich empfand: Wir kochten zusammen Nudeln. Sie bot an, dass wir gemeinsam eine Gemüsesosse machen.

Ich habe mich nicht getraut, ihr zu sagen, dass ich normalerweise nur Tomatensosse esse, ohne Gemüse drin. Wir kannten uns noch nicht so gut. Aber sie war so entspannt und verhielt sich so selbstverständlich, wählte grösstenteils Gemüse aus, das ich kannte, wie Karotten oder Paprika. Und schwärmte gleichzeitig von Zucchini – was ich bis dato noch nie gegessen hatte.

Wir kochten gemeinsam. Und assen gemeinsam. Und es schmeckte. Und ich musste mich nicht übergeben.

Was war nun so anders? Ich glaube, es hat mir gut getan, dass mir das Essen nicht einfach vor die Nase gesetzt wurde und ich dankbar dafür sein musste, egal ob ich es mag oder nicht. Wir haben gemeinsam beschlossen, zu essen, und überlegt was – ohne zu stark von dem abzuweichen, was ich bis dahin kannte. Ich hatte Kontrolle. Aber diesmal eine echte.

Es klingt banal. Aber zu lernen, dass ich gekochtes Gemüse essen kann, bot mir auf einmal Möglichkeiten für so viel mehr. Mit der Zeit wurde ich neugieriger. Ich fing an, zu experimentieren: Wie schmeckt eigentlich Kürbis? Was ist Halloumi? Gibt es vielleicht einen Salat, den auch ich mag?

Mittlerweile habe ich meine Bulimie im Griff

Dieser ganze Prozess hat Jahre gedauert. Mittlerweile koche ich allerdings sehr gerne und vielseitig. Und bin besonders stolz, wenn ich etwas mag, was andere nicht mögen – weil das etwas ist, das es jahrelang nicht gab.

Gleichzeitig habe ich eine Therapie gemacht, die mir vor Augen führte, welche Auswirkung mein Essverhalten auf mich hat. Wie nervös mich das Thema Ernährung macht. Das ist immer noch nicht ganz weg. Wenn ich mich schlecht fühle, will ich immer noch schlecht essen – und am liebsten in Massen. Aber ich verstehe nun besser, was in mir vorgeht. Ich kann die Essanfälle besser umschiffen und Kompromisse mit mir selbst schliessen. Wenn ich Pommes essen will, gibt es eben Salat dazu. Das ist vielleicht nicht unbefangen, aber ich schade mir selbst zumindest nicht.

Und manchmal habe ich eben eine Essattacke. Ich lerne immer noch, mir selbst dafür zu verzeihen und mir zu sagen: Das war eine Ausnahme, das war in Ordnung. Du bist nicht, was du isst.

Wir sollten anderen Menschen nicht so stark auf den Teller schauen

Ich würde mir wünschen, dass wir anderen Menschen nicht so stark auf den Teller schauen. Am Ende ist Essen schliesslich Geschmacksache, und jeder muss schauen, was er selbst am liebsten mag, was ihm guttut, wie experimentierfreudig er ist. Ich glaube, Geschmack muss erlernt werden, und da hat jeder seinen eigenen Weg und braucht seine eigene Zeit.

Mir hat es immer sehr weh getan, von meinen Eltern, meinen Freunden oder deren Eltern abfällige Kommentare über mein Essverhalten zu hören. Das hat meine Essstörung zwar nicht ausgelöst, aber begünstigt.

Und gleichzeitig waren es am Ende auch meine Freunde, die mir geholfen haben. Die Freundin, mit der ich gemeinsam gekocht habe. Der Freund, der gerne mit mir neue Gerichte ausprobiert. Mein Partner, der sich freut, wenn ich etwas für ihn koche, was er vielleicht noch nicht kennt.

Diese Menschen haben mir geholfen, weil sie mich nicht bewertet oder gar verurteilt haben in meinem Essverhalten. Und weil mir das so viel Vertrauen gegeben hat, dass ich irgendwann über meine Probleme sprechen konnte.

Lasst uns also versuchen, anderen das Essen nicht zu vermiesen.

Protokoll: Agatha Kremplewski

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30 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Pitefli
17.09.2019 14:09registriert April 2019
Wow eine tolle Story. Ich bin echt beeindruckt dass man trotz aller Widerigkeiten wieder eine "normale" Beziehung zum Essen finden kann. Es bestätigt mir persönlich auch wieder dass Zwang und Verbote überhaupt nichts bringen bei Kindern.
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thelastpanda
17.09.2019 14:23registriert Januar 2018
Toll geschriebener Artikel, der zum Nachdenken anregt. Wir hatten bei uns Zuhause immer eine ganz andere Essenskultur, es wurde immer (oder zumindest am Wochenende) gemeinsam gekocht und anschliessend gegessen. So haben wir schon von klein auf immer einige "Jöbli" beim Kochen übernommen und hatten Freude daran, das selbstgekochte danach auch zu essen. Ich persönlich finde es sehr schräg, wenn sich jeder in sein eigenes Zimmer zurückzieht um zu essen, da dies bei uns immer eine sehr soziale Zeit ist, bei der gelacht, geredet, diskutiert oder auch mal gestritten wurde. (1/2)
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Baccaralette
17.09.2019 14:59registriert Oktober 2015
Es hat mich körperlich geschmerzt, diesen Text zu lesen.

Ich kenne das. Ich esse kaum mit fremden Menschen. Ich mag viele Dinge nicht essen. Ich kann nachvollziehen, wie es ist, wenn einem Leute sagen, 'bisch du schnäderfrässig'. Und ja, es gibt Lebensmittel, die einen Würgeanfall bei mir auslösen.

Ich fühle mit dir. Und ich freue mich, dass du heute Dinge magst, die du vorher nicht essen konntest.

Und deine Eltern gehören bestraft. Aber sie wussten es nicht besser, genauso wie meine.

Meine ältere Schwester ist übrigens seit Jahren magersüchtig.
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