Ob das Model echt ist? Kommt drauf an. Irgendwie echt sind wohl die meisten Modefrauen, sofern echt «aus Fleisch und Knochen» heisst. Ob das ganze drum herum, Haut, Haar, Body, Lifestyle auch der Realität entspricht, ist eine andere Frage. In Zeiten der digitalen Inszenierung bleibt diese Frage meistens ohne abschliessende Antwort.
Nicht so im Fall von Miquela. Bei ihr ist die Antwort glasklar. Sie lautet Nein. Weder ihre vollen Lippen, noch ihr Faible für zeitgenössische Kunst ist echt. Miquela ist das erste Model, das nie gelebt hat. Und trotzdem schafft sie es, mit ihrem Leben Geld zu verdienen.
Die 19-Jährige Modebloggerin aus Los Angeles ist komplett animiert. Eine mit Sommersprossen besäte Makellosigkeit, die aus der sorgfältigen Arbeit einer 3D-Grafikerin oder eines 3D-Grafikers entspringt. Die nur in unseren Smartphones wohnt, obwohl es so aussieht, als regiere sie die hippen Underground-Szenen Hollywoods.
Wer die letzen anderthalb Jahren nicht in einer WIFI-losen Grotte verbracht hat, weiss: Miquela liefert mit ihrem online-Auftritt die perfekte Influencerin ab. Sie ist die Art von freischaffender Markenbotschafterin, wie sie so mancher urbane Teenie zum Vorbild hat.
Miquela trägt schicke Markenklamotten, mal ein Croptop von «Diesel» kombiniert mit einer Jacke des Schweizer Trend-Modelabels «Vetments». Auf ihrem Profil steht «Black life matters» und nebst einer ansatzweise feministischen Position macht der Avatar auch immer wieder mal seinen binationalen – brasilianisch/spanischen – Hintergrund zum Thema.
Das Ganze wirkt ein bisschen so, als hätte jemand eine realsatirische Neuauflage vom beliebten Computerspiel «Sims» herausgegeben. Aber im Gegensatz zum 00er-Jahre-Kult-Game meint es Miquelas Schöpfer ernst mit den beruflichen Ambitionen seiner Digital-Puppe. Innert weniger als einem Jahr überzeugte er 602'000 Leute dazu, die inszenierte Lifestyle-Show rund um die Uhr zu verfolgen.
In einem kürzlich erschienenen Interview bei «Business of Fashion» chattet Miquelas Strippenzieher ohne auch nur einmal aus der Rolle zu fallen mit der Redaktion. Auf die Frage «Wer bist du?» kam da die Antwort:
Die Antwort ist perfekt. Wer auch immer hinter dieser Miquela steht, hat die neoliberale Kunst des «Influencens» begriffen. Oder macht sich gar darüber lustig?
Denn eigentlich ist der Erfolg des komplett unechten Avatars in höchstem Masse erstaunlich. Lebt das «digitale Beeinflussen» doch von einer mutmasslichen Authentizität. Von einer persönlichen Nähe, die die InfluencerInnen durch scheinbare Natürlichkeit zu ihrer Community aufgebaut haben. Oder aber durch die augenscheinliche Nichtauthentizität, die offensichtliche Inszenierung, die die Community zwar belächelt, trotzdem aber an den Markenbotschafter bindet.
Auf jeden Fall – ob es nun Sympathie oder Antipathie ist – könnte man doch meinen, das Influencertum lebe von der Menschlichkeit, dem Intimen und Privaten. Da überrascht die Popularität eines völlig codierten It-Girls doch komplett.
«Nicht im Geringsten!», widerspricht Fabian Plüss von der Zürcher Influencer-Agentur «Kingfluencers». Er meint, dass das Konzept einer Kunstfigur schon jetzt durchaus klappe. Er bringt die Schweizer YouTuberin Raffaela Zollo als Beispiel. Die 24-Jährige unterhaltet mit einer überdrehten Performance und extravaganten Schmink- und Fashion-Tips ein Hunderttausender-Publikum.
Plüss führt aus: «Ich glaube, dass bei Influencer in diesem Bereich die Authentizität viel weniger eine Rolle spielt als der Content. Die Themen, die Interessen, die Ästhetik – all dies ist ausschlaggebend dafür, ob eine bestimmte Zielgruppe den Account verfolgt oder eben nicht. Ob das nun alles erfunden ist, bleibt schliesslich egal, wenn der Inhalt gut oder in diesem spezifischen Fall schön ist.»
Auch Gregor Waller, Experte für Marken- und Werbepsychologie an der «Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften», ist von Miquelas rasantem Erfolg nicht überrascht. Er erklärt: «Es liegt in der Natur des Menschen, auch Dinge zu beseelen. Das passiert bei Kindern etwa mit Plüschtieren und bei Erwachsenen auch mit Marken.» Es passiere automatisch, meint Waller, dass sich in dieser Bindung zu Objekten oder eben Marken eine Zuschreibung von menschlichen Zügen zeigt.
Dem ist sich natürlich auch die Marketing-Branche bewusst, die diesen Habitus bewusst für eigene Zwecke benutzt. «Am einfachsten und schnellsten passiert diese Emotionalisierung, wenn tatsächlich Menschen oder zumindest Menschliches in einer Reklame vorkommt.», führt Waller aus. «Ginge man in der Schweiz auf die Strasse und würde nach ‹Betty Bossi› fragen, so würden wohl die meisten Menschen von einer talentierten Hausfrau oder Hobbyköchin erzählen. In Tat und Wahrheit gab es die Figur aber niemals in Echt. Weitere solche Beispiele sind der Werbe Putzteufel Mr.Proper oder die Adventrue-Game-Heldin Lara Croft.»
Man könnte in Miquela auch ein Kunstprojekt sehen. Ein kritischer Spiegel, der uns vor die Nase gehalten wird und uns in die perfiden Abgründe unserer Zeit zu blicken zwingt. Vielleicht will uns Miquela eine Botschaft schicken; etwas im Stil von: «Ich sehe zwar perfekt aus, aber nur hier drin. Da draussen bringen dir meine Gucci-Kleider einen Scheiss. Wach auf.»
Doch so schön die Vorstellung auch ist, Miquela «sagte» in ihrem Chat-Interview etwas anderes:
Ob das Model echt ist? Egal! Sie ist schön. Sie wird monetarisiert.