Es gibt in «Game of Thrones» unter vielen schrecklichen Szenen diese eine, die den Zuschauerinnen als besonders schrecklich in Erinnerung geblieben ist: Den «Walk of Shame» von Königin Cersei Lannister. Das lange blonde Haar geschoren und nackt muss sie zur Strafe für ihre Vergehen durch die Strassen von King's Landing gehen. Sie wird von allen bespuckt, mit Essen und Exkrementen beschmissen und Hure geschimpft. Danach ist sie eine gebrochene Frau. Und wird noch böser.
«Game of Thrones»-Autor George R.R. Martin hatte den Walk of Shame in der britischen Geschichte gefunden: Die Geliebte von König Edward IV wurde nach dessen Tod derart bestraft. Sie musste so durch London gehen. Kein Mann in «Game of Thrones» muss den Weg von Scham und Schande betreten.
Genau so muss man sich das vorstellen mit den Medien und zwei sehr jungen Frauen namens Britney Spears und Kasia Lenhardt. Letztere hat das Shaming nicht überlebt. Man kann ihr nicht mehr zurufen, sie solle bloss durchhalten, irgendwann werde sich die Flut aus Scheisse, die ihr aus der «Bild»-Zeitung samt der dazugehörigen Kommentare entgegen brandete, wieder legen. Irgendwann werde der Boulevard ein neues Stück Lieblingsfleisch finden, an dem er sich die Zähne ausbeissen könne. Irgendwann ist jetzt zu Ende.
Damals war sie 16. Vom ersten Tag ihrer medialen Präsenz an wurde sie vor aller Augen wieder und wieder angezogen und ausgezogen und vermessen. Zuletzt war das nicht mehr genug. Zuletzt wurde sie zerfleischt. Als Ehebrecherin, als Hure, weil Fussballer Jérôme Boateng 2020 für sie seine Familie und ein Jahr später wiederum sie für seine Familie verlassen hatte.
1998 hatte genau dies die 25-jährige Monica Lewinsky, die berühmteste Praktikantin aller bisherigen Zeiten, erlebt. Nach ihrer Affäre mit Bill Clinton wurde sie als Ehebrecherin gebrandmarkt. In einem TED-Talk von 2015 sagt sie: «Öffentliche Demütigung ist eine Ware, Scham eine Industrie. Was ist die Währung? Klicks.»
Britney Spears war 17 und mit Justin Timberlake liiert, als sie 1999 mit «... Baby One More Time» und in einer aufgesexten Schuluniform an die Spitze des Musikuniversums schoss. Im Dokfilm «Framing Britney Spears», den die «New York Times» für Hulu gemacht hat, ist sehr schön zu sehen, wie widerlich damals alles war: Alte Männer (und ebenfalls nicht sehr junge Frauen) befragten sie in ihren Talkshows zu ihren Brüsten, ihrem Lolita-Look und ihrer Jungfräulichkeit, und Britney antwortete auf alles so freundlich und geduldig wie ein argloses Lamm. Oder ein Vollprofi.
Als sie 2002 Justin Timberlake verlässt, wird sie beschimpft und beschuldigt. Sie habe ihn betrogen, heisst es, habe mit ihrem Schlampenverhalten sein Herz gebrochen und damit auch die Herzen aller potentiellen amerikanischen Mütter und Schwiegermütter. Er rächt sich im Video zu «Cry Me a River» und in Interviews. Erst jetzt hat sich Timberlake bei Spears dafür entschuldigt.
2003 macht Diane Sawyer Britney Spears in einem TV-Interview fertig. Spielt ein Zitat der Gouverneurs-Gattin von Maryland ein: «Wenn ich könnte, würde ich Britney Spears erschiessen.» Weil sie Justins Herz gebrochen hat. Britney beginnt zu weinen: «Ew, das ist mir peinlich, können wir das abbrechen?», fragt sie.
Immer wieder wird sie Leute, die sie bedrängen, höflich darum bitten, aufzuhören, sie in Ruhe zu lassen. Helfen wird es ihr nie. Denn die Paparazzi und Boulevard-Journalisten haben erkannt, dass nur etwas wertvoller ist als Fotos und Gerüchte über die erfolgreiche oder glückliche Britney: Fotos und Gerüchte über die verzweifelte, ausrastende, unzurechnungsfähige, irre Britney. 2007, auf einem Tiefpunkt des Shamings, schert sie sich selbst die Haare. Cersei, c'est moi, scheint sie zu sagen.
Ein perfekter, perverser Teufelskreis entwickelt sich: Britney bricht zusammen, verliert das Sorgerecht für ihre Kinder, wird entmündigt. Gleichzeitig ist sie die einzige Einnahmequelle für Ex-Mann und Kindsvater Kevin Federline, für ihre Kinder, für ihren eigenen Vater, der ihr Vormund wird. Auf der Bühne funktioniert sie weiterhin prima, denn nur auf der Bühne fühlt sie sich frei, souverän und geliebt, daneben wird sie – genau wie ihre Finanzen, ihre Freunde, ihre Medikamente – kontrolliert. Und als sie einen Prozess gegen ihren Vater anstrengt, finanziert sie sowohl ihre eigenen als auch seine Anwälte.
2019 verschwindet sie für Wochen in einer Klinik, die Fans werden unruhig, sie haben da längst begonnen, zwischen den Zeilen und Bildern von Britneys Instagram-Account zu lesen, jetzt finden sie sich zur #FreeBritney-Bewegung zusammen.
Schaut man sich den Film an, so denkt man, dass es Britney Spears' eigentliches Verdienst ist, dies alles bis hierher überlebt zu haben. Schaut man sich ihren Instagram-Account an, fragt man sich, wie viel Schaden sie dabei genommen hat. Denn da geht es oft darum, wie einsam sie ist und wie verrückt man sie gemacht hat. Schaut man sie sich auf der Bühne an, ist alles gut. Das ist ihr Kraftort. Den sie allerdings aufgeben müsste, um das System, das sie gefangen hält, zu durchbrechen. Eine traurige Geschichte.
Wir haben 2021. Ist es erlaubt zu fragen, weshalb Sie erst jetzt mit diesem Artikel kommen?
Könnte es sein, dass dieser früher nicht das gleiche Interesse gefunden hätte?
Ich bin froh, wenn damaliges Unrecht korrigiert wird. Aber Medien bringen immer das, was sich gut verkauft. Damals wie heute.