Als Caspar Wolf 1783 in Heidelberg starb, da erfuhr seine Frau zuhause im aargauischen Muri zwei Jahre lang nicht, dass er tot war. Derart unzuverlässig bis inexistent waren die Kommunikationswege damals. Allzu schlimm dürfte sie der Verlust des Gatten jedoch nicht getroffen haben, die beiden hatten sich nie so richtig geliebt, und ein uneheliche Tochter – sie musste im Waisenhaus aufwachsen, wo sie mit 16 Jahren starb – gab es auch noch.
Caspar Wolf kam 1735 als viertes von sieben Kindern eines völlig verarmten Schreiners in Muri zur Welt. Sein Vater wandte sich schliesslich mit allerletzter Hoffnung dem Okkultismus zu und wurde 1740 verbannt. Quasi als männliche Hexe. Caspar wollte malen. Mit 18 wanderte er los, nach Augsburg, München und Passau, mit 25 kehrte er nach Muri zurück, malte für Kapellen und Abteien und heiratete mit 28 die Frau, die ihn nicht interessierte.
Zur Liebe seines Lebens fand er erst ein ganzes Jahrzehnt später: Es waren die Berge. Nichts als die Berge. Fünf Jahre lang verbrachte er alle seine Zeit auf Bergtouren und malte 200 Bilder, auch im Winter, auch in Eis und Schnee, am Fuss des Rhone- und des Grindelwaldgletschers, ohne Outdoor-Ausrüstung und mit einer Flinte bewaffnet gegen wilde Tiere. Hatte er seine Skizzen einmal im Atelier in Öl umgesetzt, so transportierte er die Bilder anschliessend noch einmal ins Gebirge, um die Sujets zu überprüfen.
Es war exakt in jenen Jahren, als die Schweiz zum ersten Mal so richtig boomte und Goethe schrieb, es sei ihm «sauwohl» bei uns. Die Bevölkerung wuchs im 18. Jahrhundert um 37,5 Prozent (gut, sie wuchs bloss auf 1,65 Millionen), es entstanden zusammenhängende Gewerbegebiete, und das aufgeklärte, in sich widerspenstige Genf galt in ganz Europa als Versuchslabor der Revolution.
Überhaupt nahm Europa die Schweiz als ein europäisches Zentrum voller Wunder wahr, intellektuell orientierte sich die Schweiz an Frankreich und England, in den Städten griff die Lesesucht um sich, und Goethe, der Schwärmer, von dem gemeinhin nur sein Italienkult überliefert wird, setzte die Schweiz und Italien zusammen in eine landschaftliche und erlebnisweltliche Spannungsklammer. Dort die Zitronenbäume und das milde Klima, hier die überwältigende Bergwelt, düster, rau, gefährlich, schrecklich, erhaben. Das Image der Schweiz war ein leidenschaftliches.
Caspar Wolf trug dazu bei. Denn so wie er hatte vor ihm noch keiner die Berge gesehen. Was Wolf malte, das scheint zwar vertraut, ist jedoch durch den Photoshop der Dramatisierung gejagt. Felswände werden höher, Täler enger oder weiter, Details monumentaler, als sie es in Wirklichkeit sind. Manchmal fallen verschiedene Bilder in eins, Blickwinkel werden miteinander kombiniert, bis eine ideale Komposition entsteht, Panoramen werden auf ein gängiges Bildformat gestaucht, dunkle Felsbrocken werden im Bildvordergrund eingefügt, damit der Hintergrund umso entrückter wirkt.
Es ist keine wirklich dokumentarische Kunst, sie ist nur annähernd realistisch und korrekt, doch es ist eine empfindsame Kunst. Sie zeigt die Überwältigung und Verzauberung, die Erschütterung oder Erleichterung eines Menschen angesichts einer Natur, die oft gewaltig ist und selten lieblich. Eine Natur auch, die meist von Wasser beherrscht ist, seien es Wasserfälle, Ströme, sich türmendes Gletschereis oder ein vom Sturm überfallener See. Es liegt eine Dynamik in diesen Wassern, sie wollen vorwärts, auch wenn dies vielleicht in einer Katastrophe mündet. Tollkühn, lebendig, wunderschön.
Und ja, es handelt sich dabei immer um Bilder einer Schweiz. Mit denen Caspar Wolf die Euphorie befeuerte, die Europa damals der Schweiz entgegenbrachte. Der Schweiz eines Jean-Jacques Rousseau, der Schweiz, die Voltaire begeisterte, jener angstfreien Schweiz, die keine Ahnung hatte, was die Zukunft sein könnte, bloss, dass die Wege, die in eine Zukunft führten vielleicht genauso abenteuerlich und wild sein würden wie die Gebirgsgänge des Caspar Wolf.
«Caspar Wolf und die ästhetische Eroberung der Natur»: Kunstmuseum Basel, bis 1. Februar 2015.