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Die Coronakrise dämpft Chinas Wachstum. Das bedroht die Legitimität des Regimes. Denn die hängt nicht nur von der Gesundheit der Menschen ab, sondern auch vom Geld.
Xi Jinping ist als Chef der Kommunistischen Partei (KP) Chinas ein mächtiger Mann. Seit 1949 regiert die Partei mit ihren Kadern das Land autoritär. Mit der Ausbreitung des Coronavirus Covid-19 gerät diese Herrschaft aber in eine Schieflage. Noch immer infizieren sich sehr viele Menschen mit dem Virus, besonders in der Stadt Wuhan und in der sie umgebenden Provinz Hubei. Offiziell sind bis zu diesem Mittwochmorgen mehr als 74'000 Menschen erkrankt, 2'004 starben. Zahlreiche Millionenstädte wurden seit dem 23. Januar unter Quarantäne gestellt, Millionen Chinesinnen und Chinesen sind mehr oder weniger stark von Ausgangssperren, Reiseverboten und Blockaden von Wohnvierteln und Strassen betroffen.
Allein in Hubei und den Nachbarprovinzen leben rund 60 Millionen Menschen unter quarantäneähnlichen Bedingungen. Neben dem Flugverkehr sind auch Zugverbindungen und der öffentliche Nahverkehr vorübergehend eingestellt worden; seit Beginn dieser Woche dürfen in Hubei keine privaten Pkw mehr fahren.
Experten schätzen, dass dieser Stillstand das chinesische Wirtschaftswachstum 2020 um 0.4 Prozentpunkte schmälern wird. Ursprünglich war ein Plus von sechs Prozent erwartet worden. Zhang Ming, ein Ökonom der von der Regierung unterstützten Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, warnte schon Ende Januar davor, dass das Virus Chinas Wirtschaftswachstum im ersten Quartal unter fünf Prozent drücken könnte – eine noch einmal deutliche Verschlechterung für die sich ohnehin in jüngster Zeit abkühlende Konjunktur.
Um dem zu begegnen, hat die chinesische Zentralbank PBOC (People's Bank of China) Anfang Februar 222 Milliarden Euro (1.7 Billionen Yuan) in den Markt gepumpt. Das Geld soll vor allem Zuversicht und Vertrauen schaffen. Durch das zusätzliche Kapital erhoffen sich die Verantwortlichen mehr Kredite von den Banken an die Unternehmen, denen wiederum die Produktion und damit die Umsätze durch das Virus weggebrochen sind. Die Frage ist nur, ob Chinas Unternehmen jetzt mit zusätzlichem Geld überhaupt etwas anfangen können.
Es ist die bisher höchste Summe, die binnen einer Woche an Liquidität von der PBOC ausgegeben wurde. Sie kam noch, bevor am 10. Februar die ersten Arbeiter aus den zwangsweise verlängerten Neujahrsferien wieder in die Fabriken und Betriebe zurückkehren sollten. In den drei Wochen davor stand alles still. Es stellte sich aber schnell heraus, dass die Zahl der Rückkehrer in vielen Unternehmen nicht ausreicht, da in weiten Teilen des Landes weiterhin Reiserestriktionen und Quarantänemassnahmen gelten.
Foxconn kämpft wegen des Virus' mit einem Personalmangel. Bild: EPA
Chinas Wirtschaftssystem ist abhängig von den rund 300 Millionen Wanderarbeitern, die jetzt in den Städten, in denen sie beschäftigt sind, zurückerwartet werden. Nur: Bis zum 15. Februar sind erst 80 Millionen dort angekommen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden von den lokalen Behörden am Ausreisen gehindert oder an ihrem Zielort in Quarantäne gezwungen. Bis Ende Februar erwartet die Regierung in Peking gerade einmal 40 Prozent von ihnen zurück.
Vor allem die Fertigungsindustrie in China hat dadurch Probleme, die gesteckten Produktionsziele noch zu erreichen. Laut einer Umfrage der US-Handelskammer in Schanghai und den umliegenden Industriegebieten haben 78 Prozent der Unternehmen in der Region nicht genug Mitarbeiter, um die volle Produktionslinie zu fahren. Das wiederum ist angesichts unterbrochener Lieferketten inzwischen auch global spürbar.
Beim taiwanesischen Unternehmen Foxconn beispielsweise, dem grössten Auftragshersteller weltweit, der in China auch iPhones für Apple zusammenbaut, sollen bisher nur zehn Prozent der Mitarbeiter an die Arbeit zurückgekehrt sein. Chinesische Medien gehen davon aus, dass es noch bis Anfang März dauert, bis sich bei dem Unternehmen der Betrieb normalisiert hat. Apple hat inzwischen die Umsatzprognosen für das erste Quartal zurückgenommen. Um die Krisenregion Hubei selbst liegen Provinzen wie Jiangsu und Guangdong, die zu den Zentren chinesischer Technologiehersteller gehören. Die Unternehmen dort sind für das Funktionieren globaler Lieferketten von grosser Bedeutung. Auch dort liegen grosse Teile der Produktion brach.
Bestes Beispiel ist derzeit die Autoindustrie. So hat Volkswagen zwar keines seiner 33 Werke in Hubei. Doch durch die eingeschränkten Reisemöglichkeiten im Land gebe es Probleme mit den Lieferketten und der Logistik, teilte der Konzern mit. Das Unternehmen hat den für Montag geplanten Produktionsstart in einigen chinesischen Werken um eine Woche verschoben. Das Chinageschäft macht etwa 40 Prozent aller Auslieferungen von VW aus.
«Europäische Unternehmen bereiten sich derzeit auf die Dominoeffekte der Ausbreitung des Coronavirus und der Unterbrechung der chinesischen Lieferketten vor», berichten die Experten des China-Thinktanks Merics aus Berlin. Sie warnen davor, dass «einige Unternehmen möglicherweise vorübergehend gezwungen sein dürften, Fabriken in Europa zu schliessen, wenn chinesische Partner die Produktion nicht bald wieder aufnehmen».
Bemerkbar ist auch, dass die neue konsumstarke Mittelschicht Chinas aus Angst vor Infektionen lieber zu Hause bleibt. Schon Ende Januar etwa musste Starbucks in China die Hälfte seiner 4'300 Filialen dicht machen und in den verbleibenden die Öffnungszeiten verkürzen. Auch McDonald's, Uniqlo und H&M haben in China ihre Läden teilweise ganz geschlossen. Dies alles während der Neujahrsfeierlichkeiten – einer Zeit, in der die Menschen üblicherweise freihaben, shoppen, essen und reisen. Der private Konsum in China machte bis zum Virusausbruch 65 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.
Die Auswirkungen von Covid-19 auf die Gesamtwirtschaft Chinas sind also gravierend. Die KP-Führung muss daher einen heiklen Spagat leisten: Sie muss die Bewohner vor der Lungenkrankheit schützen und das Virus eindämmen, während gleichzeitig die Wirtschaft des stillgelegten Landes wieder in Gang kommen soll. Dabei ist das Vorhalten eines stabilen Umfeldes für Wirtschaftswachstum für Chinas KP-Führung ein zentrales Moment der Legitimität ihrer Autokratie. Wachstum generiert Wohlstand und soll so die Bevölkerung politisch ruhig halten.
Diese Ausgangslage geht zurück auf die Zeit nach dem Tiananmen-Massaker, als eine Art unausgesprochener Deal zwischen der KP und den aufbegehrenden Städtern geschlossen wurde. Im Kern besagt er: Ihr bekommt persönliche Freiheiten, dürft Geschäfte machen und reich werden – dafür haltet ihr euch aus allem raus, was mit Politik zu tun hat. Das hat bislang weitgehend funktioniert. Auch deswegen ist es für die KP jetzt so wichtig, die Gratwanderung zwischen Krankheitsbekämpfung und Wirtschaftswachstum hinzubekommen. Denn zugespitzt kann man auch sagen: Ohne Wachstum ist die Existenz der KP bedroht.
Deren Führungskader verbreiten daher inzwischen nicht ohne Grund Optimismus. Immerhin soll nach offiziellen Zahlen der Anstieg der Covid-19-Infektionen zumindest ausserhalb der Krisenprovinz Hubei in den vergangenen 13 Tagen erstmals weniger stark gewesen. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus warnte jedoch am Montag: Es sei «unmöglich», den weiteren Verlauf der Epidemie vorherzusagen. Und offenbar rechnet man auch in der KP-Führung nicht damit, dass man das Virus so schnell eingedämmt bekommt: Der Nationale Volkskongress am 5. März, das wichtigste politische Ritual des Jahres, soll nach hinten verschoben werden.
Ob das Abriegeln ganzer Städte gegen das Virus wirklich hilft, weiss niemand. Noch breitet sich Covid-19 aus, und es ist nicht absehbar, welche Folgen es auf die Epidemie in den nächsten Wochen und Monaten hat, wenn allein die vielen Millionen Wanderarbeiter an ihre Wirkungsstätten zurückkehren dürfen. Parteichef Xi Jinping hat am 3. Februar in einer Politbürositzung, dem zentralen KP-Gremium, seine Sicht der Prioritäten dabei schon mal dargelegt: Die Partei muss die Epidemie stoppen, die gesellschaftliche Stabilität absichern (was bedeutet, Unruhen zu verhindern), den Informationsfluss wie auch die öffentliche Meinung kontrollieren sowie das Wachstum fördern. Ob die KP aber mit diesen wie immer auch restriktiven Massnahmen die verunsicherte Bevölkerung überzeugt und die Menschen zurück zur Arbeit bewegt, bleibt vorerst dahingestellt.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.