Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken bejubeln im Willy-Brandt-Haus in Berlin ihren Sieg beim SPD-Mitgliederentscheid um den Parteivorsitz. Bild: EPA
Es ist eine Sensation: Die Gegner der grossen Koalition aus SPD und CDU triumphieren beim Entscheid über den SPD-Vorsitz. Aber sie haben sich die falschen Revolutionäre ausgesucht.
Mit der Wahl von Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken haben sich die SPD-Mitglieder für den Bruch entschieden. Sie haben alle Warnungen des Partei-Establishments ignoriert, ihren Vizekanzler Olaf Scholz düpiert und das Ende der grossen Koalition eingeläutet.
Die einstige Volkspartei SPD steht vor der Spaltung, denn das Ergebnis des Mitgliederentscheids ist denkbar knapp: 53 Prozent stimmten für den radikalen Neuanfang und Walter-Borjans/Esken, 45 Prozent für Weitermachen wie bisher mit Scholz und Klara Geywitz. Der Rest enthielt sich. Obwohl diese Entscheidung essentiell für die Partei und den Fortbestand der Regierung war, raffte sich nur jeder zweite Sozialdemokrat überhaupt dazu auf, abzustimmen.
Vizekanzler Olaf Scholz ist der grosse Verlierer des Tages. Für Merkel wird es nun noch schwieriger. Bild: dpa
Unter den aktiven SPD-Mitgliedern hat sich das Bedürfnis nach einem radikalen Neuanfang durchgesetzt: Viele Jahre Pragmatismus haben die einstige Volkspartei klein gemacht, in Zeiten der grossen Koalition sind die Regierungserfolge stets der Union zugerechnet worden. Vor allem deshalb wirkte die Sozialdemokratie zuletzt beliebig, abgegriffen, austauschbar. Das Ergebnis des Mitgliederentscheids zeigt, dass es in der SPD noch Rebellen gibt: Sie haben sich erfolgreich aufgelehnt gegen die Generation der ewigen Pragmatiker wie Sigmar Gabriel, Andrea Nahles und Olaf Scholz.
Aber so gut es der SPD zu Gesicht steht, dass sich endlich wieder Kampfeslust regt: Es ist zu bezweifeln, dass die Sieger Esken und Walter-Borjans für die Revolution taugen, nach der sich die SPD so sehnt. Die Partei – das zeigte schon der Martin Schulz-Effekt – neigt dazu, ihre Hoffnung schnell auf Politiker zu projizieren, denen dann doch das nötige Charisma und die Visionen fehlen.
Saskia Esken: rhetorisch wenig beschlagen. Bild: EPA
Saskia Esken ist eine kämpferische Bundestagsabgeordnete, die gern die Vergangenheit der SPD schlecht redet, aber wenig Ideen für die Zukunft hat. Sie will eine SPD, die so links ist wie die Linkspartei und so grün wie die Grünen, kann aber nicht sagen, was das Alleinstellungsmerkmal ihrer Partei sein könnte.
Norbert Walter-Borjans: ein Meister der Relativierung. Bild: EPA
Norbert Walter-Borjans lebt vor allem von der Erinnerung, dass er als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen vor sieben Jahren Steuersünder bekämpfte. Darüber hinaus ist er vor allem ein Meister der Relativierung: Walter-Borjans will mit der Wirtschaft gut Freund sein und gleichzeitig die entfesselten Märkte zähmen. Sogar die alles entscheidende Frage, ob er die grosse Koalition wirklich beenden will, lässt Walter-Borjans offen.
Ihre Wählerinnen und Wähler erwarten einen radikalen Schnitt. Bild: EPA
Bis dato versichern die beiden neuen Chefs nur, dass sie das Bündnis mit der Union nicht kopflos verlassen, sondern erst einmal den Koalitionsvertrag nachverhandeln wollen. Denn auch Walter-Borjans und Esken wissen zum Beispiel, dass es die Grundrente für Geringverdiener bis auf Weiteres nur in einer Regierung mit der Union geben wird. Dass sie alle ihre schönen Ideen für eine gerechtere Welt in der Opposition nicht umsetzen werden.
Die Gewinner brauchen nun einen Plan für den SPD-Parteitag, der in genau einer Woche über die Zukunft auch der grossen Koalition entscheiden soll. Und auch, wenn sie bedacht vorgehen wollen, wie sie beteuerten: Ihre Wählerinnen und Wähler erwarten einen radikalen Schnitt. Das ist das erste Dilemma der neuen Vorsitzenden.
Noch ein weiteres unangenehmes Problem hat sich die SPD mit der Entscheidung eingehandelt: Sie könnte sich ganz basisdemokratisch in die vorübergehende Handlungsunfähigkeit gestimmt haben. Kann ein Vizekanzler, für den sich bei einer basisdemokratischen Wahl aktiv nur 23 Prozent aller 425'000 Genossen aussprechen einfach so weitermachen? Eher nein. Und so erleben wir an diesem Abend den Anfang vom Ende der Karriere des Olaf Scholz – Eines Politikers, den auch die politische Konkurrenz für durchaus kanzlerfähig hält. Es wäre der Tiefpunkt der personellen Auszehrung der SPD.
Scholz steht für das Establishment. Das wurde ihm heute zum Verhängnis. Bild: EPA
Konsequent wäre der von der Basis gewünschte Bruch mit der Vergangenheit sowieso nur vollzogen, wenn mit Scholz auch alle SPD-Ministerinnen und Minister sowie die Ministerpräsidenten abtreten, die für den Vizekanzler geworben haben. Aber die neuen Vorsitzenden brauchen deren Erfahrungen und Kontakte für die nun anstehenden Verhandlungen mit der Union und einen möglichen Wahlkampf. Sie müssen der alten Riege daher die Hand reichen. Wie wenige Männer und Frauen es in der SPD gibt, die Verantwortung übernehmen können und wollen, hat sich schliesslich gerade erst in dem langweiligen Kandidatenfindungsprozess gezeigt.
Doch wie wollen die beiden Brücken bauen, wo Saskia Esken erst vor wenigen Tagen öffentlich kundtat, dass sie Scholz nicht für einen «standhaften Sozialdemokraten» hält. Die neuen Vorsitzenden haben zudem grosse Teile der Bundestagsfraktion gegen sich. Mächtige Abgeordnete wie Martin Schulz haben dezidiert vor der Wahl des Team Esken/Borjans gewarnt, weil sie SPD-Politik schlecht redeten.
Diese Partei lässt sich nicht mit ein paar Worten versöhnen und das Establishment lässt sich sicher nicht so einfach beiseite schieben. Nach dieser Wahl wird der Machtkampf in der SPD erst so richtig beginnen. Ob die zwei Newcomer dem standhalten, ist nach ihrer eher mauen Performance im Wahlkampf eher ungewiss.
Dass die Genossen im Mitgliederentscheid ihrer Sehnsucht nach einem Bruch und etwas Neuem nachgegeben haben, ist nachvollziehbar. Nun ist etwas gebrochen, und es könnte der Moment sein, in dem die SPD auseinanderfällt – Und sich die Welt einfach ohne sie weiterdreht.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.