Alles begann Ende der 90er-Jahre mit der Erkenntnis der aus Connecticut stammenden Firma Purdue Pharma, dass die Behandlung chronischer Schmerzen äusserst lukrativ ist. Das Unternehmen entwickelte daher das Mittel Oxycontin. Dabei handelte es sich um ein Opioid-Schmerzmittel, das angeblich eine verschwindend kleine Suchtgefahr mit sich brachte. Der morphinähnliche Wirkstoff werde dosiert über mehrere Stunden abgegeben, weshalb ein Morphin-Kick nicht möglich sei, wie es damals von Purdue Pharma hiess.
Die Firma verharmloste die Suchtmöglichkeit des Medikamentes. Um Absätze anzukurbeln, lud Purdue Pharma Ärzte, Apotheker und Schmerzorganisationen zu luxuriösen Tagungen ein – den Teilnehmern sollte vermittelt werden, dass viele Schmerzpatienten aufgrund einer Angst vor Opioiden unnötig litten und Oxycontin eine risikolose Lösung darstelle. Zusätzlich verfolgte Purdue Pharma eine aggressive Werbekampagne.
Die Mission war erfolgreich: Zwischen 1999 und 2010 vervierfachte sich die Zahl der verschriebenen Rezepte für Opioid-Schmerzmittel. Neben Purdue Pharma stiegen noch weitere Unternehmen in das Schmerzmittelgeschäft ein – und verdienten lange Zeit viel Geld.
Die Medikamente waren jedoch nicht so harmlos wie von den Pharmaunternehmen dargestellt. Oxycontin machte nicht nur abhängig, sondern konnte auch einen Rausch verursachen – beispielsweise wenn es zerstampft und geschnupft wurde.
Die Folge: Die Anzahl Opioid-Abhängiger stieg kongruent mit der Anzahl verschriebener Rezepte. Viele Süchtige wechselten jedoch nach einer Zeit auf günstigere illegale Produkte wie Heroin oder Fentanyl. Das wiederum führte in den letzten zehn Jahren zu bis zu 100'000 Todesfällen von Amerikanern aufgrund einer Opium-Überdosis – und zu Millionen von Menschen mit Medikamentensucht.
Die Opioid-Krise hat die USA nach wie vor fest im Griff. Täglich sterben rund 100 Personen an einer Überdosis. Präsident Donald Trump rief deshalb im vergangenen Oktober den nationalen medizinischen Notstand aus. Die Geschäftspraktiken der Schmerzmittelhersteller gerieten jedoch bereits früher in Verruf.
Die amerikanische Drogenbehörde DEA hatte das Problem seit 2005 auf dem Radar. So wurden Briefe an die Medikamentenhändler verschickt mit der Warnung, dass sie verpflichtet seien, verdächtige Schmerzmittel-Bestellungen zu melden und den Verkauf allenfalls einzustellen, bis den Hinweisen nachgegangen werden konnte. Der Brief ging auch an Arzneimittelhersteller.
Laut DEA wurden die Warnungen jedoch weitgehend ignoriert, was die Behörde härter durchgreifen liess. Es folgte eine Reihe zivilrechtlicher Durchsetzungsverfahren gegen die Schwergewichte im Medikamentenhandel. Bis heute wurden Bussgelder in der Höhe von fast 500 Millionen Dollar an das Justizministerium gezahlt. Grund: das Versäumnis, verdächtige Bestellungen zu melden und zu verhindern.
Der erhöhte Druck durch die Behörden, das Weisse Haus und die vielen Betroffenen führte zu vielen aussergerichtlichen Einigungen – meist bezahlten die Händler oder Hersteller Millionenbeträge. Nun geht es jedoch um ganz andere Beträge, wie das neueste Beispiel aus Ohio zeigt.
Letzte Woche präsentierte die DEA gemäss Washington Post neue Zahlen zu den Lieferungen von Opioid-Medikamenten. Die Zahlen lassen darauf schliessen, dass die Schmerzmittel sehr standortspezifisch verteilt werden – will heissen, je besser der Standort, desto mehr Pillen werden geliefert. Besser bedeutet in diesem Fall, dass der Verkaufspunkt nahe an einem Highway und somit gut erschlossen ist und bestenfalls ein Obdachlosenheim mit potentieller Kundschaft in der Nähe gelegen ist.
Nun richten sich alle Augen auf die beiden Countys in Ohio, Summit County und Cuyahoga County. Laut den veröffentlichten Zahlen der DEA wurden nämlich an gewisse Standorte in diesen Countys verhältnismässig viele Pillen geliefert – eben solche Verkaufspunkte, die besonders lukrativ sind. Die Klage dreht sich entsprechend um die Frage, wie viel Verantwortung die Pharmaunternehmen für die Opioid-Epidemie tragen.
Wenn es zu keiner aussergerichtlichen Einigung kommt, wird der Fall ab Oktober vor Gericht behandelt. Es wäre in diesem Zusammenhang die erste Sammelklage von rund 2000 Städten, Bezirken, Indianerstämmen und anderen Klägern. Die Countys verlangen Milliarden von Dollars von den betroffenen Pharmaunternehmen, um die Opioid-Krise bewältigen zu können.
Vorgeworfen wird den Unternehmen gemäss veröffentlichten Gerichtsunterlagen der Kläger die «public nuisance», also öffentliches Ärgernis. Durch die unterlassene Kontrolle des Medikamentenflusses habe man bewusst die Gesundheit von Anwohnern gefährdet. Teilweise geschah dies anscheinend sogar im Wissen, dass einige Schmerzmittel für den illegalen Gebrauch abgezweigt wurden.
Gemäss der «Washington Post» argumentieren die Kläger, dass «[...] kein Zweifel daran besteht, dass die Opioid-Krise – die Epidemie der Verfügbarkeit und des Konsums von Opioiden – die öffentliche Gesundheit erheblich beeinträchtigt und sowohl in Cuyahoga als auch in Summit ein öffentliches Ärgernis darstellt».
Die Anklage untermauert ihre Aussage mit etlichen Statistiken. So sei etwa im Jahr 2016 die Sterblichkeitsrate von pharmazeutischen Opioiden in Cuyahoga County 3,26 Mal höher als der nationale Durchschnitt gewesen. Zudem sei unter Anderem auch die Anzahl an Neugeborenen mit einer Opium-Abhängigkeit zwischen 2004 und 2015 deutlich angestiegen.
Die beschuldigten Unternehmen aus Vertrieb und Produktion anerkennen das Problem – den Fehler machen sie jedoch woanders aus.
Nun, wie erwähnt, ist das Problem nicht wegzureden. Das wissen auch die beschuldigten Unternehmen. Jedoch treffe sie keine Schuld, da sie lediglich daran interessiert seien, die Amerikaner von ihren Schmerzen zu befreien. Diese Argumentation kommt sehr bekannt vor.
Das Problem liegt in ihren Augen bei den Ärzten, die viel zu schnell Rezepte ausschreiben, und den Apotheken, die solche Schmerzmittel zu leichtfertig verteilen. Natürlich trägt auch der Kunde Mitschuld, wenn er das Medikament als Droge missbraucht.
Firmen wie Purdue Pharma scheinen nach wie vor keine Einsicht zu haben – selbst wenn die Zahlen und Fakten ein relativ klares Bild zeichnen. Die Entscheidung in dieser Klage wird einen Präzedenzfall schaffen und entsprechend die Weichen für die weitere Handhabung der Opioid-Krise stellen.
John Oliver hat sich der Thematik bereits zweimal gewidmet. Beide Beiträge sind sehenswert:
Kapitalismus ist doch was Feines…
Aus meiner Sicht müsste Werbung für rezeptpflichtige Medis, Alkohol, Zigaretten und andere Suchtmittel verboten werden.