Zwei linksliberale Zeitungen, offen, tolerant und weltläufig. Aber sie können auch anders. Frankreich sei blind für seinen Rassismus und «unfähig, sich einer veränderten Welt anzupassen», schreibt die «New York Times» an die Adresse jenes Landes, «das früher eine Grossmacht war». «Le Monde» kontert, die USA behinderten die Redefreiheit und würden «zerstört» durch die politische Korrektheit und die Cancel Culture. Die NYT bringt keine Karikaturen mehr; und nach der brutalen Ermordung des französischen Geschichtslehrers Samuel Paty titelte sie: «Die französische Polizei schiesst und tötet einen Mann nach einer tödlichen Messerattacke in der Strasse.»
Als die französische Regierung ein hartes Durchgreifen gegen Dschihadisten ankündigte, unterstellte die «Financial Times» Präsident Macron, er spalte sein Land mit einer «Kriegserklärung gegen den islamischen Separatismus».
«Washington Post» und «New York Times» behaupteten, Paris grenze mit seinem Kopftuchverbot die muslimische Gemeinschaft als Ganzes aus, damit fördere sie indirekt den Zulauf, den salafistische Moscheen in der Banlieue erlebten. Darauf rief Macron den Medienredaktor der NYT persönlich an und schalt ihn, er legitimiere letztlich die Gewalt gegen Karikaturisten und Lehrer.
Vor einer Woche feuerte die «New York Times» wieder eine Breitseite über den Atlantik. Ihr Pariser Korrespondent Norimitsu Onishi fragt im Titel eines langen Beitrags unverhohlen ironisch: «Bedrohen die amerikanischen Ideen etwa die französische Kohäsion?» Seine These: Die amerikanischen Rassismus-, MeToo- oder Gender-Debatten entlarvten das «französische Einheitsdenken», das keine kulturellen Unterschiede oder Abweichungen von der Norm zulasse.
Der NYT-Korrespondent argumentiert, die US-Gesellschaft lebe von der Vielfalt der Kulturen und der Respektierung ethnischer, sexueller oder anderer Minderheiten; Frankreich dagegen lasse nicht einmal «rassische» Statistiken zu und verschliesse damit die Augen vor seinen gesellschaftlichen Realitäten. Diese Haltung wurzle in Frankreich in einer «langen Geschichte der Negierung des Rassismus, der Kolonialvergangenheit und des Sklavenhandels».
Einen solchen Angriff konnte «Le Monde» nicht stehen lassen: «‹Die New York Times› vergisst zu sagen, dass Frankreich nicht den Antikolonialismus anprangert, sondern dessen Missbräuche.» Die amerikanische Zeitung übergehe «Dutzende von Beispielen der Zensur in den USA, dazu eine galoppierende Selbstzensur sowie die erschreckende Einengung der Wortwahl für Akademiker und Kulturschaffende.» Als Beleg führt «Le Monde» eine Umfrage an, wonach 65 Prozent der Franzosen die Cancel Culture als Gefahr für die Demokratie sehen. Dadurch ermuntert, kommt das Pariser Renommierblatt zum Schluss: «Zum Glück ist Frankreich noch nicht Amerika.»
Ein solcher nationaler Raster erstaunt vonseiten eines betont liberalen Blattes. Dabei bräuchte es nicht viel, um zu verstehen, dass die französische «pensée unique» (Einheitsdenken) ähnliche Folgen zeitigen kann wie das amerikanische Kulturcanceln. Im nordfranzösischen Lille wurde der keineswegs reaktionäre Ex-Präsident François Hollande an einem Universitätsauftritt gehindert, weil er zu wenig soziale Positionen vertrete.
In Bordeaux sagte die Fakultät eine Konferenz mit der Philosophin Sylviane Agacinski ab, nachdem die Gattin des ehemaligen sozialistischen Premiers Lionel Jospin ethische Bedenken gegen die Zulassung der künstlichen Befruchtung für lesbische oder andere Frauen geäussert hatte.
Die Rückzieher mögen durch amerikanische Debatten beeinflusst sein. Aber sie haben französische Urheber und auch sonst etwas sehr Französisches, wie der konservative Politphilosoph Frédéric Mas festhält:
So werden die «Charlie»-Karikaturen mit Verweis auf die Meinungsfreiheit oft durch alle Böden verteidigt – abweichende Meinungen zum neuen Genderdiskurs aber mit handfesten Methoden unterbunden. Die Sorbonne musste einen Zyklus zum Thema «Radikalisierung» annullieren, weil der algerische Islamismuskritiker Mohamed Sifaoui – dem Gegner Islamophobie vorwerfen – teilnehmen sollte.
Hinter dieser Absage standen zweifellos eher innerfranzösische Motive als amerikanischer Einfluss. Aber Selbstzensur ist einfacher als Selbstkritik. Indem die «New York Times» den Franzosen den Spiegel vorhält und «Le Monde» umgekehrt den Amerikanern, befolgen die beiden Redaktionen lieber Jean-Paul Sartres Bonmot: Die Hölle, das sind die anderen.
Da spielt es kaum eine Rolle, ob es übrigens die "linksliberalen" Digitalmobs sind oder die Neurechten vom äußereren Rand.
Es sind einfach sehr laute Minderheiten, denen sich die Journalisten beugen, ohne es wirklich zu müssen.
Derweil sind die Disparitäten in den USA so krass, dass man als Afroamerikaner eine ca. 5-7 Jahre tiefere Lebenserwartung als ein europastämmiger Amerikaner hat.
Da wirken die Aussagen der NYT schon fast zynisch. Schade um die Medienwelt... eine weitere Zeitung, welche früher Qualitätsjournalismus betrieb, bevorzugt billige Stimmungsmache.
Selten so eine dumme und unwahre Aussage gesehen. Wenn dem so wäre, so würde in den Staaten niemand "Black Lives Matter" rufen. Die USA haben meiner Ansicht nach das grössere Rassismus Problem als Frankreich. Die NYT soll zuerst vor ihrer eigenen Haustüre kehren.