Für die Verfechter von (sozial-)liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war das letzte Wochenende eines zum Vergessen. Am Samstag bestätigte der US-Senat die Berufung von Brett Kavanaugh an den Obersten Gerichtshof, obwohl die Amerikaner gemäss Umfragen die gegen ihn erhobenen Vorwürfe wegen versuchter Vergewaltigung für glaubwürdiger erachten als seine Verteidigung.
Mehr als 2400 Rechtsprofessoren hielten in einem Aufruf an den Senat fest, Kavanaugh fehle das für das höchste Richteramt notwendige objektive Urteilsvermögen. Die Republikaner kümmerte dies nicht. Sie erfüllten sich mit der Ernennung des konservativen Juristen ihren Wunschtraum, dem Supreme Court auf Jahre hinaus eine stramm rechte Mehrheit zu verschaffen. Mit unabsehbaren Folgen für das gesellschaftliche Klima in den USA.
Der nächste Rückschlag folgte am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl in Brasilien. Der Rechtspopulist Jair Bolsonaro schnitt deutlich besser ab als in den letzten Umfragen. Viel fehlte nicht, und er hätte die Wahl bereits in der ersten Runde für sich entschieden. Mit etwas über 46 Prozent ist seine Ausgangslage für die Stichwahl am 28. Oktober verheissungsvoll.
Das grösste lateinamerikanische Land könnte einen Staatschef bekommen, der homophobe und rassistische Sprüche klopft und die von 1964 bis 1985 herrschende Militärdiktatur verherrlicht. Als «Lösung» zur Bekämpfung der grassierenden Kriminalität in Brasilien propagiert Bolsonaro die Bewaffnung des Landes. Ein klares politisches Programm aber sucht man beim «Trump der Tropen» vergebens.
Bolsonaro ist die Bestätigung eines bedenklichen Trends: Der politische Tabubruch von rechts ist nicht nur salonfähig, sondern zum Erfolgsrezept geworden. Und zwar überall, in den USA, Europa, Lateinamerika, Asien. Donald Trump hat es vor zwei Jahren vorgemacht: Sein Wahlkampf war eine einzige Folge von Tabubrüchen. Sie beförderten ihn nicht ins Offside, sondern ins Weisse Haus.
Es folgte der Wahlsieg des Polterers Rodrigo Duterte auf den Philippinen. Er ist in mancher Hinsicht ein Bruder im Geiste von Jair Bolsonaro. Selbstjustiz ist für ihn ein legitimes Mittel gegen die Drogenkriminalität. In Italien macht es De-facto-Regierungschef Matteo Salvini vor: Je schärfer seine Polemik gegen Flüchtlinge und EU, umso höher klettert seine Partei Lega in den Umfragen.
Wer hetzt und spaltet, riskiert heutzutage nicht mehr die politische Ächtung. Er gewinnt Wahlen.
Wie konnte es zu dieser für eine funktionierende Demokratie bedenklichen Entwicklung kommen? Eine simple Erklärung gibt es nicht. Verantwortlich ist zum einen ein toxischer Mix aus Korruption, wirtschaftlichem Niedergang und wachsender Ungleichheit. Er bietet einen idealen Nährboden für die einfachen Rezepte des Rechtspopulismus, von Brasilien über die Philippinen bis nach Italien.
In den USA und Europa kommt ein später Backlash gegen die 68er und die von ihnen ausgelösten Umwälzungen hinzu. Und gegen die politische Korrektheit. Verbale Tabubrüche im Sinne von «Das wird man wohl noch sagen dürfen!» gehören zum Repertoire der Rechten. AfD-Chef Alexander Gauland hat Hitler und die Nazis als «Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte» bezeichnet. Seine Partei hat zuletzt in den Umfragen die SPD überholt.
Eng damit verbunden ist ein Reflex, den der Kolumnist Gideon Rachman in der «Financial Times» mit dem Begriff «männliche Wut» umschreibt. Das zunehmende Selbstbewusstsein der Frauen (Stichwort #metoo) erschüttert die jahrhundertealte Vormachtstellung der (weissen) Männer. «Viele Männer fürchten den Verlust ihrer Macht und ihres Status», schreibt Rachman.
Es erstaunt deshalb wenig, dass der Rechtspopulismus vorwiegend männlich ist (Marine Le Pen und Alice Weidel sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen). Seine Vertreter haben auch keine Hemmungen, mit frauenfeindlichen Sprüchen auf Wählerfang zu gehen. Deshalb passt auch Brett Kavanaugh, obwohl kein gewählter Politiker, perfekt in diese Galerie der Tabubrecher.
Seine Ernennung hing in der Schwebe, nachdem die Anschuldigungen von Christine Blasey Ford wegen versuchter Vergewaltigung publik geworden waren. Trotzdem hat es Kavanaugh geschafft, dank einem doppelten Tabubruch, wie die «Washington Post» schreibt. Da war einmal der persönliche Angriff von Donald Trump auf Blasey Ford bei einem Wahlkampfauftritt in Mississippi.
Seine Berater hatten dem Präsidenten dringend davon abgeraten. Für die Republikaner im Senat aber war Trumps vermeintlich inakzeptable Entgleisung das Signal, sich hinter den bedrängten Richter zu scharen. «Sie hatten Erfolg, weil sie alle Regeln und Normen gebrochen haben», stellte der demokratische Senator Richard Blumenthal gegenüber der «Washington Post» fest.
Der zweite Tabubruch betraf Kavanaugh selbst, genauer seine Wutrede vor dem Justizausschuss des Senats an die Adresse der Demokraten. Sie war kein spontaner Einfall, sondern wurde vom Weissen Haus orchestriert, genauer von Trumps Rechtsberater Don McGahn. Er soll Kavanaugh nach Blasey Fords bewegendem Auftritt dazu gedrängt haben, «von Herzen» zu sprechen.
Damit brachte er die Republikaner auf seine Seite, doch er beschädigte auch das wichtigste Gut eines Juristen, die Unparteilichkeit. Die Rechtsprofessoren betonten diesen Aspekt in ihrem Aufruf an den Senat, Kavanaugh nicht zu bestätigen. Dessen scheinheiliger Versuch, seinen Ruf in einem Beitrag für das «Wall Street Journal» aufzupolieren, dürfte vergeblich sein.
Man könnte diese Vorgänge aus der ruhigen und gemütlichen Schweiz mit Kopfschütteln und Belustigung verfolgen. Doch dazu besteht kein Anlass, denn ein Schweizer ist in mancher Hinsicht ein Pionier des modernen Rechtspopulismus. Christoph Blocher machte seine SVP seit den 90er Jahren mit einer Folge von Tabubrüchen zur mit Abstand stärksten Partei des Landes.
Die Reaktion ihrer Gegner bietet Anschauungsunterricht, wie man den Rechtspopulisten nicht begegnen sollte. Empörung über ihre Stillosigkeit hat der SVP mehr genützt als geschadet, ebenso die Anbiederungs- und Kopierversuche aus der politischen Mitte. Die CSU hat es im Umgang mit der AfD versucht, sie dürfte bei der Bayernwahl am Sonntag dafür die Quittung erhalten.
Die Schweiz zeigt aber auch, wie man die rechte Welle stoppen kann: Mit bedingungslosem Kampfgeist und der Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Auf diese Weise gelang es vor bald drei Jahren, den vermeintlich sicheren Abstimmungserfolg der SVP-Durchsetzungsinitiative zu verhindern. Seither hat sich die Partei gemässigt, auch weil Blocher weniger präsent ist.
Die Kampagne für die Selbstbestimmungsinitiative, über die am 25. November abgestimmt wird, ist sogar verblüffend zahm. Man darf sich aber nicht täuschen lassen: Inhaltlich ist die Initiative die wohl radikalste Ausprägung der «Switzerland first»-Doktrin. «Im Grunde handelt es sich um eine Totalrevision der Bundesverfassung», sagte Helen Keller, die Schweizer Vertreterin am Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, dem «Sonntagsblick».
Allerdings hat die SVP mit Initiativen, die nicht ihre Kernthemen Ausländer und Asyl betreffen, wenig Glück gehabt. Auch andernorts wachsen die Bäume für die Rechtspopulisten nicht in den Himmel. Donald Trumps Beliebtheitswerte liegen trotz boomender Wirtschaft unter 50 Prozent. Die Demokraten wollen ihm die Kavanaugh-Schlappe bei den Midterms am 6. November heimzahlen.
Zum Verhängnis wird den Populisten oft auch, dass ihren grossspurigen Worten nur kleine Taten folgen. So hat die Popularität von Rodrigo Duterte zuletzt abgenommen. Immer mehr Filippinos haben angesichts der schlechten Wirtschaftslage die Nase voll von seinen Sprüchen. Der 73-jährige Präsident zeigt zwei Jahre nach seiner Wahl bereits Anzeichen von Amtsmüdigkeit.
Eine Trendwende ist trotzdem nicht in Sicht. So lange sich vorab weisse Männer von Frauen und Multikulti herausgefordert fühlen und mit Abstiegsängsten konfrontiert sehen, und so lange die linken und rechten Eliten darauf keine Antwort finden, sondern lieber Marotten wie die Identitätspolitik pflegen, werden die Tabubrecher auch in Zukunft leichtes Spiel haben.