Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Das Wetter war garstig an diesem 1. Mai – im wahren Leben wie im übertragenen Sinne. Die Umzüge und Kundgebungen der Gewerkschaften fanden bei Regen und Kälte statt, und das politische Klima bietet der Linken derzeit ebenfalls wenig Anheimelndes. «Es ist höchste Zeit für mehr Wärme!», schrieb SP-Präsident Christian Levrat geradezu beschwörend in seinem Aufruf zum Tag der Arbeit. Seit dem Rechtsrutsch bei den Wahlen «bläst uns ein eisiger Wind um die Ohren».
Die Genossinnen und Genossen erfahren auf die harte Tour, wie die Bürgerlichen ihre gestärkte Macht ausspielen. Seit FDP und vor allem CVP im Parlament deutlich geschlossener auftreten, können sie im Verbund mit der SVP ihren Anliegen vermehrt zum Durchbruch verhelfen. Linke und Grüne verfolgen dieses Treiben hilflos und zunehmend frustriert. Indiz dafür ist die kopflose «Flucht» der SP-Fraktion während Roger Köppels Schmährede gegen Simonetta Sommaruga.
Die schweizerische Linke befinde sich «in einer Identitätskrise», kommentierte die NZZ. Dieser Befund lässt sich nicht nur auf die hiesigen Verhältnisse anwenden. Vielmehr betrifft er die gesamte europäische Linke. Sie verliert Wahlen und steckt im Umfragetief, insbesondere nördlich der Alpen. In Polen ist sie seit den letzten Wahlen im Parlament überhaupt nicht mehr vertreten.
Nur in Südeuropa kann sie sich behaupten. Dort brachte sie sogar neue Gruppierungen hervor, doch deren Glanz ist bereits am Verblassen. In Spanien ist die Protestpartei Podemos mit ihrem arroganten Chef Pablo Iglesias wesentlich dafür verantwortlich, dass keine neue Regierung gebildet werden konnte und Neuwahlen stattfinden werden. Und in Griechenland ist die anfangs bejubelte Syriza schnell auf dem Boden der Realpolitik aufgeprallt.
Frankreichs sozialistischer Präsident François Hollande ist unbeliebt wie keiner seiner Vorgänger. Er scheint gewillt, bei den Wahlen in einem Jahr erneut anzutreten, doch beim heutigen Stand würde er es nicht einmal in die Stichwahl schaffen, sie fände zwischen Rechts und Rechtsaussen statt. Gewisse Erfolge kann einzig der italienische Regierungschef Matteo Renzi vorweisen, und der hält betont Distanz zu roten Ideologien und inszeniert sich als überparteilicher Reformer.
Europas Linke befinde sich «in einem langen Niedergang», stellte das Online-Magazin Politico fest. Auf die Herausforderungen der Gegenwart wie die Euro- und die Flüchtlingskrise hat sie keine überzeugenden Antworten. Damit überlässt sie das Terrain jenen Kräften, die mit simplen Rezepten hausieren gehen. Dafür werden Polit-Fossilien wie der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn – oder Bernie Sanders in den USA – zu Hoffnungsträgern hochgejubelt, obwohl sie kaum mehr zu bieten haben als Umverteilungs-Ideen aus der Mottenkiste des Klassenkampfs.
Die Schweizer Sozialdemokratie fährt auf der gleichen Schiene, sie hat in letzter Zeit mit mehreren Umverteilungs-Initiativen (1:12, Mindestlohn, Erbschaftssteuer) an der Urne Schiffbruch erlitten. Mit der AHVPlus-Initiative ist das nächste Debakel – vermutlich im September – bereits programmiert. Ansätze zu Selbstkritik sind vorhanden. «Uns fehlen die grossen Themen», meint Jon Pult, Präsident der SP Graubünden und einer der klügeren jungen Köpfe seiner Partei.
Die hiesige Linke habe eigentlich alles erreicht, stellte der Schriftsteller Charles Lewinsky im Interview mit watson fest: «Die heutige Schweiz ist der Traum eines SPlers von vor 100 Jahren.» Jetzt habe die Partei Mühe, neue Aufgaben zu finden, so SP-Mitglied Lewinsky. In dem Befund steckt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit: Im sozialen und gesellschaftlichen Bereich hat die SP faktisch alle grossen Schlachten geschlagen und gewonnen.
Was bleibt, sind Feintuning und Abwehrkämpfe gegen den bürgerlichen Sparhammer. Zukunftsweisende Konzepte findet man kaum, und wenn, dann eher bei Grün als bei Rot. Hierin zeigt sich das wahre Drama der Linken: Ihr Denken ist auf die Vergangenheit fixiert, genauer auf die goldenen 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, die heftige gesellschaftliche Umbrüche, aber auch einen enormen Wohlstandsgewinn für die breite Masse hervorbrachten.
Die Franzosen mit ihrem Hang zur pathetischen Verklärung bezeichnen diese Periode nicht umsonst als «Les Trente Glorieuses» – die glorreichen 30. Diese Bezeichnung enthält eine tüchtige Portion Wehmut. Man trauert einem goldenen Zeitalter hinterher, von dem sich nicht nur, aber insbesondere die Linken schwer lösen können. Ihr Idealbild besteht aus Vollbeschäftigung und einem starken Sozialstaat, der viel Manna an möglichst viele ausschüttet.
Die Realität des heutigen Europa besteht aus alternden Gesellschaften mit strapazierten Rentensystemen, hoher Arbeitslosigkeit, einer exorbitanten Staatsverschuldung und einen Unbehagen gegenüber Migration und soziokulturellen Herausforderungen (Stichwort Islam). Und einer Entwicklung, die sich vierte industrielle Revolution oder Industrie 4.0 nennt, und deren Folgen noch kaum absehbar sind.
Sicher ist nur: Die Digitalisierung und die damit verbundenen Technologien wie 3-D-Drucker und Roboter werden unsere Arbeitswelt fundamental verändern.
Optimisten verweisen darauf, dass zahlreiche neue Fachkräfte benötigt werden. Bereiche wie die Alten- und Krankenpflege liessen sich zudem kaum automatisieren. Dem stehen Szenarien gegenüber, wonach Millionen Arbeitsplätze verschwinden und im Gegensatz zu früheren Umbrüchen kaum ersetzt werden. Vermutlich haben beide Sichtweisen ihre Berechtigung. Es werden neue Arbeitsfelder entstehen. Aber zahlreiche Routinejobs dürften überflüssig werden.
Die Linke mit ihrem Anspruch als gesellschaftliche Avantgarde müsste Antworten auf diese Herausforderung entwickeln. Wie kann man verhindern, dass die Mittelklasse erodiert, wie das in den USA bereits der Fall ist? Es ist kein Zufall, dass sich gerade dort immer mehr Verfechter eines Grundeinkommens zu Wort melden. Wäre dies eine Lösung, oder müsste man die Sozialsysteme nicht im Gegenteil verstärkt auf die Bedürftigkeit ausrichten? Und wie macht man die Menschen fit für die Digitalisierung und die Industrie 4.0?
Die «grossen Themen» lägen bereit, mit denen sich die Linke neu profilieren könnte. Allein, davon ist wenig zu erkennen. Lieber beschwört Christian Levrat den linken Widerstand gegen die bürgerlichen Abbaupläne. Schlimmer noch: Auch vom Nachwuchs, dieser ersten echten Generation der Digital Natives, sind kaum frische Ideen zu vernehmen. Die Juso machen vor allem Lärm und schwenken die rote Fahne des Klassenkampfs. In Frankreich bekämpfen sie sogar eine bescheidene Arbeitsrechtsreform, von der in erster Linie sie selbst profitieren würden.
Einer solchen Linken droht der Absturz in die totale Irrelevanz. Ohnehin stellt sich die Frage, ob die Rechts-Links-Konfrontation nicht ausgedient hat. «Der Graben wird in Zukunft vermehrt zwischen Reformern und Konservativen verlaufen», sagte ein Vertrauter des französischen Wirtschaftsministers Emmanuel Macron zu Politico. Der 38-jährige Zögling von François Hollande ist so etwas wie der Shootingstar der französischen Politik. Trotz seines liberalen Profils erzielt er in aktuellen Umfragen hohe Werte, er wird bereits als Präsidentschaftskandidat gehandelt.
Der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» hat Macron ein kluges Interview gegeben. Ausserdem hat er die Bewegung En Marche (Vorwärts) gegründet. Er kann sogar auf eine Art Jugendorganisation namens Les Jeunes avec Macron zählen. Über eine schlagkräftige politische Hausmacht verfügt er jedoch nicht. Und es fehlt der Glaube, dass seine Positionen in einem derart reform-resistenten Land wirklich mehrheitsfähig sind. Insbesondere, wenn er sich in der «Zeit» über Politiker mokiert, die das französische Modell als das beste der Welt preisen: «Nichts ist schlimmer.»
Mit seinem Profil als postideologischer Reformer weist Macron dennoch den Weg in die Zukunft. Gänzlich ausgedient haben die Anliegen der Linken deswegen nicht, im Gegenteil. Die «schöne neue Welt» von Globalisierung, Sharing Economy und Industrie 4.0 lässt sich nur ertragen, wenn die Verlierer eine Perspektive erhalten. Sei es durch Bildung oder durch soziale Abfederung.
Wenn die Sozialdemokratie jedoch geistig in den «glorreichen 30» stecken bleibt, wird sie vom Gorbatschow-Effekt («Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben») überrollt werden. Profitieren dürften die Rechtspopulisten, obwohl die schon gar keine Rezepte für die künftigen Herausforderungen zu bieten haben. Sie wollen erst recht zurück in die «gute alte Zeit».