Es ist viel passiert, seit vor ziemlich genau einem Jahr die MeToo-Bewegung mit einem Artikel über die sexuellen Vergehen und den Machtmissbrauch von Hollywoodproduzent Harvey Weinstein ihren Anfang nahm. Das Hashtag #MeToo, von dem die Bewegung ihren Namen hat und das als Sprachrohr für all jene Frauen agiert, die bisher über ihre Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen, Missbrauch und Vergewaltigungen schwiegen, ist zu einem Symbol, ja zum Inbegriff einer über lange Zeit zurückgehaltenen Wut geworden. 18 Millionen Einträge finden sich unter #MeToo auf Twitter, fast alle berichten sie von sexuellen Übergriffen.
Auch in der Schweiz gerieten Männer öffentlich unter Druck, wie der Fall des wegen Nötigung verurteilten Walliser Nationalrats Yannick Buttet zeigt. Er sei «über eine Frauenaffäre gestolpert», schreibt die «NZZ». Für «unangemessenes und übergriffiges Verhalten» sei der CVP-Politiker bekannt, schreibt die «TagesWoche». Ein «Affentheater» nennt es die «Weltwoche».
Das schnelle Fazit: Seit #MeToo werden Opfer wahrgenommen und Täter zu Fall gebracht. Eine Meinung darüber, wann Flirten aufhört und Belästigung anfängt, hat jetzt jeder. Die einen sehen in der Sexismus-Debatte den freien Umgang zwischen den Geschlechtern gefährdet, andere wünschen sich einen «femininen Feminismus». Klar ist: #MeToo beschäftigt.
Inzwischen hat sich die Bewegung zu einer umfangreichen Diskussion über die Gleichberechtigung von Männern und Frauen entwickelt. Was erst wie eine Flutwelle durch das Internet schwappte und den angestauten Frust der Frauen in die Medien spülte, fand auch in der analogen Welt die nötigen institutionellen Akteurinnen und Akteure, um als Bewegung nicht an Nachdruck zu verlieren.
Der US-Bundesstaat Kalifornien etwa will künftig per Gesetz mehr Frauen den Weg in die Führungsetage von Unternehmen ebnen. In Rumänien gibt es Bussen bei «Grapschen». Und in der Schweiz wird 2018 erstmals ernsthaft über eine Frauenquote im Bundesrat diskutiert. Ignazio Cassis empfiehlt überraschend deutlich, zwei Frauen in die Regierung zu wählen – was dem FDP-Aussenminister viel Kritik einbrachte. Es darf vermutet werden, dass ambitionierte Politiker gerade jetzt, ein Jahr vor den eidgenössischen Wahlen, versuchen, mit feministischen Anliegen die weibliche Wählerschaft ins Boot zu holen. Dass heute mehr denn je mit Frauen Politik gemacht wird, ist eine Folge von #MeToo.
#MeToo befeuerte Debatten über Lohngleichheit, Vaterschaftsurlaub, Political Correctness. Doch eignen sich nicht einzig Politikentscheide als Gradmesser dafür, wie gut sich feministische Anliegen in der Schweiz durchsetzen. Wie hat die Bewegung tatsächlich den Alltag verändert? «Die Frauen haben schon mehr Gehör bekommen. Aber im Ausgang hatte das bei meinen Kolleginnen und mir keine Auswirkungen. Die Männer akzeptieren auch heute oft ein Nein nicht als Nein», sagt eine 23-jährige Studentin bei einer von uns durchgeführten Umfrage an der Pädagogischen Hochschule in Zürich.
Dass es «im Ausgang immer noch gleich viele blöde Anmachen gibt», bestätigt eine andere. Auf unsere Frage, was sich nach einem Jahr #MeToo veränderte, reagieren die befragten Frauen enttäuscht. Die Diskussion werde besonders von Männern oft ins Lächerliche gezogen.
In einer amerikanischen Studie gab die Hälfte der befragten männlichen Studenten an, ein Anrecht auf Sex zu haben, wenn die Frau mit nach Hause kommt. Es existiert die Vorstellung, dass ein Mann mit Aufdringlichkeit eine Frau zum Sex überreden kann. Ein Verdienst der Bewegung ist, diese Vorstellungen zu hinterfragen und neu zu verhandeln. Dass es einigen jetzt nicht schnell genug gehen kann, ist verständlich: Vielen Frauen ist erst seit #MeToo bewusst, dass sexuelle Übergriffe, insbesondere in Zusammenhang mit strukturell bedingter Machtausübung, unrecht sind.
Man denke dabei an die Filmindustrie, aus der quasi wöchentlich neue Skandale über sexuelle Übergriffe an die Öffentlichkeit gelangen. Dabei darf die #MeTooBewegung durchaus als eine der schnellsten Veränderungen in unserer Kultur seit den 1960er-Jahren bezeichnet werden, wie «Time»-Chefredaktor Edward Felsenthal sagt. Das Magazin wählte die #MeToo-Begründerinnen 2017 zur «Person des Jahres».
Die Vehemenz, mit der sich Frauen hierzulande gegen sexuelle Übergriffe engagieren, ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Zeitenwende: Die Scham der sexuellen Belästigung ist weitgehend abgelegt. Unrecht wird nicht mehr verschwiegen. #MeToo gab Frauen die Berechtigung, ja Ermutigung, sich zur Wehr zu setzen. «Man muss nicht begründen, warum man nicht begrapscht werden will. Ich habe jetzt mehr Mut als zuvor. Die Diskussion hat bewirkt, dass nun gilt: Sexuelle Belästigungen gehen nicht! Auch nicht, wenn man betrunken ist. Es ist kein Spass für die Frau, es ist Belästigung», sagt eine Frau in unserer Umfrage. #MeToo fordert Frauen auf, sexuelle Übergriffe konsequent zur Anzeige zu bringen.
Das erste Jahr mit #MeToo ist ein Anfang mit Wirkung. Dass es nach wievor vor allem Frauen sind, die über Sexismus und sexuelle Gewalt diskutieren, bemängelt eine junge Frau in unserer Umfrage. Hilfreich wäre, wenn Männer und Frauen gleichsam einen Standard setzen: Gewalt? Erniedrigung? Dulden wir nicht! Die Grenze sollte nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen Recht und Unrecht gezogen werden. (aargauerzeitung.ch)