Die dramatische Flucht eines nordkoreanischen Soldaten nach Südkorea wirft ein Schlaglicht auf die Tatsache, dass jedes Jahr tausende Menschen aus dem vermeintlichen Arbeiterparadies fliehen – obwohl ihnen drakonische Strafen drohen, wenn sie erwischt werden. Die allermeisten versuchen es jedoch nicht über die schwer bewachte innerkoreanische Grenze, sondern fliehen ins nördliche Nachbarland China.
Trotz der Abschottung des Landes sickern Nachrichten über den Lebensstil und -standard in Südkorea durch. Viele Nordkoreaner konsumieren – verbotene – südkoreanische TV-Serien und schenken der omnipräsenten Propaganda ihres Regimes keinen Glauben mehr. Während noch in den Neunzigerjahren der Hunger der Hauptgrund war, aus dem Land zu fliehen, ist es heute die Sehnsucht nach Freiheit und die Verbesserung der Lebensqualität. Manche Flüchtlinge bleiben nur eine Weile in China, um Geld für ihre darbende Familie zu verdienen, und kehren dann zurück, auch wenn ihnen bei Entdeckung Arbeitslager oder sogar die Todesstrafe droht.
Obwohl die Ernährungslage heute nicht mehr so schlimm ist wie zwischen 1994 und 1999, als bis zu einer Million Nordkoreaner verhungerten, gibt es nach wie vor Engpässe. Gleichwohl gab 2016 über die Hälfte der Geflüchteten an, ihr Einkommen in Nordkorea sei «genügend» gewesen.
Jedes Jahr schaffen es einige wenige tausend Nordkoreaner, aus ihrem Land zu fliehen. Rund 80 Prozent von ihnen sind Frauen, wobei dieser Anteil seit Jahren stetig zugenommen hat. Dies könnte daran liegen, dass Frauen die Flucht leichter fällt, weil sie sich als Landarbeiterinnen ausgeben und sich so der Grenze nähern können, ohne Verdacht zu erregen. Frauen sind zudem oft die Ernährerinnen der Familie; sie versuchen daher eher, im Ausland Geld oder Essen zu finden, um ihre Familien durchzubringen. Männer fliehen dagegen öfter aus politischen Gründen.
Hunderttausende Männer dienen in der riesigen nordkoreanischen Armee. Viele von ihnen leiden Hunger, da in der Versorgungskette jeder etwas abzweigt und für die einfachen Soldaten oft zu wenig Essen übrig bleibt. Aus diesem Grund desertieren ab und zu auch Soldaten, obwohl auf Fahnenflucht der Tod durch Erschiessen steht.
Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge stammt aus der Provinz Hamgyong-pukto (Nord-Hamgyong), die direkt an der chinesischen Grenze liegt.
Nur äusserst selten gelingt eine Flucht über die innerkoreanische Grenze, die streng überwacht wird. Die grosse Mehrzahl der Flüchtlinge versucht, Nordkorea über die Grenzflüsse Yalu und Tumen nach China zu verlassen – die meisten von ihnen nutzen den Tumen, da dieser Fluss seichter und schmaler als der Yalu ist.
Auch diese Grenze wird aber bewacht; seit dem Amtsantritt von Kim Jong-un hat das Regime in Pjöngjang die Kontrollen noch deutlich verschärft. Der Grenzübertritt ist daher gefährlich. Oft fliesst Bestechungsgeld, das manchmal von bereits geflohenen Verwandten im Ausland bezahlt wird.
Wer es nach China geschafft hat, ist noch lange nicht sicher. Die Volksrepublik schickt Flüchtlinge nach Nordkorea zurück – wo diese Arbeitslager oder gar der Tod erwartet. Viele Nordkoreaner versuchen deshalb, von China aus nach Südkorea zu gelangen. Manche schlagen sich in die Mongolei oder nach Russland durch, andere wenden sich nach Süden und reisen über Südostasien nach Südkorea. Eine solche Odyssee kann mehrere Jahre dauern; die meisten sind zwischen zehn Monaten und einem Jahr unterwegs.
Mittlerweile halten sich vermutlich etwa 200'000 Nordkoreaner in China auf. Peking erkennt Flüchtlinge aus Nordkorea jedoch nicht als solche an und schickt sie in ihren Heimatstaat zurück, wenn sie erwischt werden. Die Volksrepublik zahlt sogar ein Kopfgeld an Denunzianten, die Flüchtlinge an die Behörden verraten. Mit der Abschiebung der geflohenen Nordkoreaner in ihr Herkunftsland bricht China allerdings bindendes Völkerrecht, denn die Volksrepublik hat beide Abkommen der Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert. Gefahr droht den Flüchtlingen aber auch von nordkoreanischen Spitzeln, die ihre Landsleute aus China zurückholen wollen.
Hilfe finden die nordkoreanischen Flüchtlinge zum Teil bei den Joseonjok, der koreanischen Minderheit in China. Diese Chinesen koreanischer Abstammung leben vornehmlich im Bezirk Yanbian in der Grenzprovinz Jilin, wo sie gegen 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Flüchtlinge aus Nordkorea konzentrierten sich daher früher in Yanbian, doch mittlerweile verteilen sie sich über mehrere Provinzen.
Männer schlagen sich in China als Land- und Bauarbeiter durch, Frauen werden zwangsverheiratet oder landen oft in der Zwangsprostitution. Auch in den Bordellen, in denen sie als Sexsklavinnen gehalten werden, leben sie in der ständigen Furcht, nach Nordkorea zurückgeschickt zu werden.
Weibliche Flüchtlinge, die bei einem Fluchtversuch erwischt oder aus China nach Nordkorea ausgeschafft werden, landen meistens im Arbeitslager und werden meist nicht exekutiert. Anders ist dies bei desertierten Soldaten: Ihnen droht die Todesstrafe durch Erschiessen.
Wer «nur» in ein Arbeitslager kommt, kann allerdings immer noch ums Leben kommen: Folter, Vergewaltigungen und willkürliche Hinrichtungen sind in diesen Lagern an der Tagesordnung, Hunger und Überarbeitung sind Alltag. Die meisten Gefangenen im nordkoreanischen Gulag – der aus sechs grossen Hauptlagern und rund 200 Nebenlagern besteht – sterben, bevor sie das 50. Altersjahr erreichen. Das Regime wirft überdies nicht nur erwischte Flüchtlinge in die Lager, sondern auch deren Familie – Sippenhaftung im 21. Jahrhundert.
Wer es als Nordkoreaner nach Südkorea schafft, landet zuerst in einem Aufnahmezentrum. Die Flüchtlinge werden dort bis zu sechs Monate lang vom südkoreanischen Geheimdienst überprüft, um mögliche Spione zu enttarnen oder eine kriminelle Vergangenheit aufzudecken. Danach erst beginnt die Integration.
Da Südkorea auch alle Nordkoreaner als südkoreanische Staatsbürger betrachtet, erhalten die Flüchtlinge automatisch die südkoreanische Staatsbürgerschaft. Zudem gibt es ein Hilfspaket und Geldzahlungen, die jedoch in letzter Zeit reduziert wurden – als Druckmittel, um die Flüchtlinge zu einem selbstverantwortlichen Leben zu bringen. Vergünstigte Wohnungen und erleichterter Zugang zum Studium an südkoreanischen Universitäten runden die Hilfsmassnahmen ab.
Gleichwohl dürfen sich Nordkoreaner nicht der Illusion hingeben, ihre Integration in die südkoreanische Gesellschaft sei ein Kinderspiel. Abgesehen davon, dass südkoreanische Kinder aufgrund der unterschiedlichen Ernährungslage im Schnitt grösser sind, beginnen die Probleme bereits mit der Sprache: Im Norden hat sie sich anders entwickelt als im Süden, wo mittlerweile zahlreiche Anglizismen den Wortschatz ergänzt haben. Nordkoreaner können Texte problemlos lesen, verstehen aber oft deren Bedeutung nicht korrekt.
Dazu haben die Nordkoreaner mit Vorurteilen zu kämpfen. Vor allem Frauen sind davon betroffen; manche Südkoreaner glauben, jede Frau sei auf ihrer Flucht vergewaltigt worden – was ein Stigma auf sie wirft.
Ja, freilich nur sehr selten. Und sie werden in ihrer neuen Heimat nicht unbedingt glücklich – oft werden sie dort inhaftiert. Und mitunter zurückgeschickt – wie ein Südkoreaner vor drei Jahren erfahren musste, der von Nordkorea an die südkoreanischen Behörden überstellt wurde. Die meisten der wenigen «umgekehrten» Flüchtlinge versuchen, mit ihrer Flucht nach Nordkorea finanzielle, gesetzliche oder familiäre Probleme loszuwerden.
Südkorea bestraft solche Überläufer, da es Südkoreanern gesetzlich verboten ist, den Norden ohne Erlaubnis der Regierung zu besuchen. 2013 wurde ein Südkoreaner sogar beim versuchten Grenzübertritt erschossen – von südkoreanischen Soldaten.