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Flüchtlingskrise: Die Zustände in Lesbos

Kaum Platz und ein Schlafplatz in der Kälte: Harte Realität in den Flüchtlingslagern in Lesbos.
Kaum Platz und ein Schlafplatz in der Kälte: Harte Realität in den Flüchtlingslagern in Lesbos.
Bild: simon habegger

Überfüllte Lager, überforderte Behörden: Eine Reise nach Lesbos, ins Herz des europäischen Flüchtlingsdramas

10.11.2015, 11:0310.11.2015, 22:14
 Knackeboul
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Schweissgebadet erwache ich im Hotel in Athen. Fieberartige Albträume, Gliederschmerzen und Magenkrämpfe – ein Trip, der mich an meine Grenzen brachte. Drei Tage war ich insgesamt auf Lesbos. Kurz, aber heftig. 

Michael Räber geht es ähnlich. Bei einer Geschäftsreise nach Athen hat er die desolaten Zustände syrischer und afghanischer Flüchtlingsfamilien gesehen und sich kurzerhand entschieden, in Griechenland zu bleiben. Zu helfen. Inzwischen ist der Informatiker seit mehreren Wochen auf Lesbos. Die Insel, auf der wöchentlich mehrere Tausend, meist syrische, Flüchtlinge landen. Räber finanziert sich mit Schweizer Spenden, wird unterstützt von Familie und Freunden. 

Ob ich mir vor Ort ein Bild der aktuellen Lage machen möchte, hat er mich gefragt. Eine Gelegenheit, die ich nicht verpassen möchte: In derselben Woche sind mein Freund und Fotograf «Habi» und ich bereits im Flieger. Ziel: Lesbos. 

Flug über Athen, idyllische Inselgruppen, mediterrane Temperaturen: Habi und ich kämpfen gegen aufkommendes Ferienfeeling. Räber holt uns beim Empfang zurück in die Realität. Den Tränen nahe, meint er: «Wenn meine Kinder mal in der Schule über diese Zeit erfahren und mich fragen: ‹Was hast du 2015 gemacht?›, will ich antworten können: ‹Ich war in Lesbos und habe versucht, zu helfen.›»

Auf dem Weg zum Hotel streifen wir zum ersten Mal die Küste Lesbos: Hunderte, ja Tausende von Schwimmwesten überwuchern wie eine bizarre Kunstinstallation die Ufer und Strände, Menschentrauben schleppen sich durchnässt und durstig über die hügeligen Uferwege.

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Berge von Schwimmwesten zeugen von den grossen Flüchtlingsströmen.
gif: watson

Nach einer kurzen Nacht fangen wir an zu helfen. Zusammen mit Michus Team (unter anderem seiner Mutter und seiner Tante, beide über 60) verteilen wir Wasser, transportieren Familien mit Kleinkindern, ziehen Boote aus dem Wasser und Menschen aus den Booten. Arbeit ist genug da. 

Während ich im Alltag um 20 Uhr schlapp zu Hause bin, fahre ich hier bis spät in die Nacht: Strand – Lager – Strand – Ambulanz – Strand. Es ist anstrengend, aber man wächst über sich hinaus. Löst ein Kind in meinem Auto im Normalfall ein mulmiges Gefühl aus, lenke ich hier bis zu zwanzig Menschen gleichzeitig, Babys oder Verletzte. Die steilen und engen Bergwege werden mir vertraut, ich fasse Mut. Habi, mein Freund, zwingt mich irgendwann ins Hotel zu fahren. Auch ein Helfer braucht Ruhe. 

An diesen Stränden landen täglich Menschen auf der Flucht in ein besseres Leben.
An diesen Stränden landen täglich Menschen auf der Flucht in ein besseres Leben.
Bild: simon habegger

Die Ausdauer des Teams und all der anderen Helfer auf Lesbos ist überwältigend und ansteckend. Menschen aus aller Welt sind vor Ort, kochen, stellen Zelte auf, verarzten Verletzte. Diese freiwilligen Helfer wollen den Flüchtlingen Wärme schenken: Es wird herzlich gegrüsst, man umarmt sich. Der Umgang ist respektvoll. 

Das Elend der flüchtenden Menschen ist unvorstellbar. Wie Vieh werden sie von Schleppern in die Boote gequetscht. Ein Boot für 20 Personen? Easy, dann bitte noch 30 mehr reinsetzen. Oft gibt der Motor mitten im Meer den Geist auf. Dann heisst es für die «Passagiere»: Warten. Und hoffen, dass sie irgendjemand entdeckt.    

Auf unserer Route zwischen Strand und Küste sehen wir ein solches Boot. Oder besser gesagt: Wir hören es. Kinder schreien, die Männer versuchen verzweifelt mit den Armen gegen die Strömung anzupaddeln, alle in Panik. Dutzende hilflose Helfer stehen am Strand, ein arabischer Übersetzer ruft den Flüchtlingen zu, Ruhe zu bewahren und sitzen zu bleiben. Erste springen bereits verzweifelt ins Wasser, kämpfen sich samt Kleider am Leib Richtung Ufer. Erst ein griechischer Fischer kann die Situation entspannen – und schlussendlich auch Menschen retten. Er zieht das Boot ans Ufer. Helfer und Flüchtlinge fallen sich in die Arme, die Erleichterung ist gross. Fast alle, die aus dem Boot steigen, strahlen. Endlich in Europa. 

Flüchtlinge landen in Lesbos. Was kommt danach?
Flüchtlinge landen in Lesbos. Was kommt danach?
Bild: simon habegger

Für uns unvorstellbar, diese Freude. Wir wissen, was diese Menschen erwartet. Nach einer unglaublich mühseligen Reise, geprägt von Krieg und Elend, kommen sie auf Lesbos an. Voller Hoffnung, in ein besseres Leben marschieren zu können. Ja, marschieren müssen sie. Nach Moira.  

Was sind die Perspektiven in Europa für die Flüchtlinge?
Was sind die Perspektiven in Europa für die Flüchtlinge?
bild: simon habegger

Moria ist das offizielle Registrierungslager auf Lesbos. Hier landet jeder, der als Flüchtling einen Fuss auf die griechische Insel setzt – und weiterreisen möchte. Hier prallen tausende abgekämpfte Menschen und gefühlt ein Dutzend Polizisten, die ihrerseits mit einer nicht funktionierenden Software kämpfen, aufeinander. 

Die Zustände sind desolat: Hunderte Mütter und Kinder schlafen auf dem harten Boden, währendessen die Männer tagelang sitzend oder kniend «anstehen» müssen. Medizinische Versorgung? Fehlanzeige. Die gibt's erst nach der Registrierung. Auch der Weg in eins der zwei Spitäler auf der Insel lohnt sich kaum: alle überbelegt. Viele Kinder sind krank. Der Winter naht, eine Eskalation ist vorprogrammiert. Wird der griechische Staat dieses Problem lösen können, bevor es richtig kalt und unwirtlich wird?

Daphne Tolis, eine griechische Journalistin und unermüdliche Kämpferin für die Rechte der Flüchtlinge, erzählte uns später von der angespannten Stimmung. Einige junge Männer hätten die Nerven verloren und wollten den Zaun stürmen, andere Syrer hingegen versuchten diese mit Stöcken daran zu hindern, um eine totale Eskalation zu verhindern. Dies bewirkte das Gegenteil, die überforderte griechische Polizei setzte ihrerseits Schlagstöcke und Tränengas ein. Ich verstehe, dass man unter diesen Umständen austickt. Meine Nerven lagen schon nach einer Stunde in Moria blank. 

Haben all diese Menschen kein Recht auf ein menschenwürdiges Leben? Warum kriegt Griechenland, offensichtlich überfordert, keine Hilfe? Und: Menschen, die es schaffen, dem Krieg zu entrinnen, ein Meer zu überqueren und die Strapazen dieser Lager auszuhalten, sich registrieren zu lassen und Athen zu verlassen – wohin sollen sie gehen? 

Auch die Kleider zeugen von den Massen

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Nach Ungarn oder Mazedonien, wo sie niedergeknüppelt werden? Nach Österreich oder in die Schweiz, wo ein immer fremdenfeindlicheres Klima herrscht und man gegen jede Asylunterkunft protestiert? Zurück in den Krieg oder in ein Land in Schutt und Asche können sie nicht. Was haben diese Menschen verbrochen, dass sie Flüchtlinge sind? Rechtlose? Heimatlose? Studenten, Lehrer, Büezer, Musiker, Hipster, Bauern, Reiche, Arme, Junge und Alte: Nicht ein einziges Mal habe ich mich bedroht gefühlt. Aber immer wieder geschämt. Geschämt, dass mein Land, meine Generation, ja, ich, in Saus und Braus leben. Dass, nur knapp zwei Flugstunden entfernt, auf europäischem Boden, Menschen in Not sind, Menschen leiden.

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Kurz vor dem Abflug, eine der letzten Fahrten von Habi und mir: Wir laden eine Gruppe junger Männer beim Zwischenlager «Oxy» ab. «Oxy», ein Club, in dem normalerweise bis spät in die Nacht getanzt wird – Meerblick inklusive. Bei der Ankunft liegen etwa 500 Menschen auf dem Boden, sie schlafen unter freiem Himmel. Die Wettervorhersage für die nächsten Tage: Sturm, Regen und Kälte. 

Zurück in Zürich, liege ich in meinem Bett. Die letzten drei Tage setzten mir zu – lächerlich. Meine Gedanken sind bei den tapferen Kindern und ihren Müttern, die seit langem auf der Flucht sind und jetzt in Lesbos im Regen stehen. Sie sind bei «Michu» und den vielen Helfern, die mit einer nicht bewältigbaren Aufgabe kämpfen. Währenddessen sitzt die Elite Europas in langen Sitzungen und redet, statt konkret zu handeln. 

Ein Satz von «Michu» hallt in meinem Kopf nach: «Man müsste das Recht auf Leben über Einwanderungsgesetze stellen.»

Die lange Flucht auf dem Wasser, zu Fuss, mit dem Zug:

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Flüchtlinge im Oktober 2015: Die lange Flucht auf dem Wasser, zu Fuss, mit dem Zug
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quelle: ap/ap / santi palacios
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7 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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oliversum
10.11.2015 12:25registriert Februar 2014
Sowas täte Leuten wie Andreas Glarner auch mal gut.
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birdybird
10.11.2015 14:37registriert April 2015
Hut ab vor dir und all den anderen Helfern! Ich hoffe Europa wacht endlich auf und beginnt zu handelt statt nur zu diskutieren. Und wie Infonaut korrekt sagt, hier diskutiert man das Landesrecht vor Völkerrecht zu stellen. Wie abartig das ist...
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davidoo
10.11.2015 12:41registriert Dezember 2014
herzlicher und ehrlicher bericht. danke !
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