Nach dem Tod von Daniel H. kam es im August 2018 in Chemnitz zu tagelangen rassistischen Aufmärschen in der Stadt. Bild: EPA/EPA
Das Urteil gegen den Geflüchteten Alaa S. basiert auf einer derart dünnen Beweislage, dass man glauben könnte, das Gericht habe aus Angst vor der Strasse entschieden.
Wie sieht es wohl aus, wenn eine Demokratie, wenn ein Rechtsstaat langsam verschwindet? Zumindest von innen heraus kann man den Moment durchaus verpassen, wie der berühmte Frosch im Wasserbad, das immer weiter erhitzt wird.
Weil dieser eine Moment oft so schwer erkennbar ist, in dem man zweifelsfrei sagen könnte: Hier verlassen wir das Territorium der Demokratie. Oder weil es so viele dieser Momente gibt, dass die meisten schon abgestumpft sind.
Deutschland ist weit entfernt von den Zuständen in Polen oder Ungarn, und doch ist am Donnerstag mit dem deutschen Rechtsstaat etwas Ungeheuerliches geschehen. Wie es aussieht, ist an einem deutschen Gericht ein politisch motiviertes Urteil gefällt worden.
Schauplatz war das Landgericht Chemnitz, das über den Totschlag an Daniel H. urteilte, der vor einem Jahr zu den tagelangen rassistischen Aufmärschen in der Stadt geführt hatte. Angeklagt war der Geflüchtete Alaa S., und das Gericht verurteilte ihn nun zu neuneinhalb Jahren Haft, obwohl die Beweislage äusserst dünn war. Um es vorsichtig auszudrücken.
Wie dünn, das erkennt man am besten in der Gegenprobe: Stellen wir uns vor, ein AfD-Anhänger wäre wegen Mordes in einem öffentlich hochaufgeladenen Fall verurteilt worden, und zwar ohne DNA-Spuren, ohne Sachbeweise, nur aufgrund einer einzigen Zeugenaussage, von einem Zeugen obendrein, der behauptet, die Tat aus 60 Metern Entfernung im Dunkeln gesehen zu haben. Der sich mehrfach widersprach, der erst Hieb- und dann Stichbewegungen gesehen haben will, und der bei Rekonstruktionen die Täter falsch anordnete.
Der Teufel wäre los. Es würde argumentiert, dass der Rechtsstaat mit derartigen Urteilen die Vorurteile gegen sich schüre. Im Zweifel für den Angeklagten. Und all das zu Recht.
Dass das Gericht die Schwäche dieses einen Beweises gegen Alaa S. nicht einmal anerkennt, sondern gegen das Offensichtliche sogar noch behauptet, die Beweislage habe «jegliche Zweifel» an der Schuld ausgeräumt, das ist allein schon gruselig.
Es stärkt die Vermutung, dass die Richter sich zumindest zum Teil von einem Motiv haben leiten lassen, das in einem Gerichtssaal nicht das Geringste verloren hat: Rücksicht auf die politische Situation in Sachsen. Konkret: dem Gedanken, dass man die Rechten jetzt nicht mit einem Freispruch auf die Strassen treiben darf.
Die Chemnitzer Bürgermeisterin Barbara Ludwig hatte ja schon vorher die Erwartung formuliert, es möge einen Schuldspruch geben, damit die Familie des Opfers Frieden finde. Ein Freispruch sei «für die Stadt schwierig». Schon das war grenzwertig.
Wenn Politiker von der Justiz bestimmte Urteile erwarten und das öffentlich formulieren, ist das kein Anzeichen für eine gesunde politische Kultur, eher dafür, dass die Justiz um ihre Unabhängigkeit durchaus besorgt sein darf.
Dazu passt, dass das Urteil deutschlandweit überschaubare Empörung ausgelöst hat. Offensichtlich sehen viele auch ausserhalb Sachsens ein, dass man kurz vor den Landtagswahlen die sächsischen Anglerhutträger nicht auf die Palme bringen darf. Das war ja auch schon das Argument dafür, die fehlerhafte Kandidatenkür der AfD für die sächsischen Landtagswahlen letztlich weitgehend unbestraft durchgehen zu lassen.
Was wäre, stand damals zu lesen, wenn die AfD und Pegida nach der Wahl Zehntausende mobilisieren würde, um den Wahlausgang anzufechten? Was wäre, fürchtete man jetzt wohl in Chemnitz, wenn nach einem Freispruch der wütende Mob wieder loszieht, zum Jahrestag der Chemnitzer Hetzjagden, eine Woche vor der Wahl?
Es stimmt ja: Beides hätte zu neuen rechtsextremen Eskalationsversuchen führen können. Um diese Angst richtig zu verstehen, muss man sich die sächsische Realität vor Augen führen. In Niedersachsen oder Bayern sind die Macht- und Mehrheitsverhältnisse zwischen Demokraten und Rechtspopulisten eindeutig.
In Sachsen, das haben die vergangenen Jahre gezeigt, ist das anders. Der Sicherheits- und Justizapparat ist offensichtlich durchdrungen von Pegida-Anhängern, Rechtspopulisten dominieren besonders in ländlichen lokalen Räumen die öffentliche Meinung. Dort haben sie mancherorts die Kraft, NSU-Ausstellungen oder Podiumsdiskussionen über den Rechtspopulismus zu erschweren bis unmöglich zu machen.
In einer solchen Atmosphäre und mit der Chemnitzer Erfahrung vom letzten Jahr in den Knochen stellt sich die Frage «Provoziert das die Rechten?» mit ganz anderer Dringlichkeit als im Westen Deutschlands. Das ist schon verständlich.
Aber wenn es um die Anwendung rechtsstaatlicher Prinzipien geht, kann es keinen Kompromiss geben. Wenn mittlerweile wirklich Urteile aus Angst vor der Reaktion der Rechtspopulisten gefällt werden, dann haben wir ein schweres Problem.
Dann begeht der Rechtsstaat im Osten Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Mehr noch: Dann gewöhnt er rechtspopulistische Wähler daran, dass die Gerichte und Polizeien auf Druck von rechts reagieren. Und dann lernen demokratische Akteure: Dieser Staat ist nicht die stärkste Instanz, die es hier gibt. Das alles wäre viel fataler als eine Neuauflage der Chemnitzer Proteste.
Ist es in Sachsen schon bald soweit? Zumindest wäre es Zeit, sich überparteilich einzugestehen, dass die staatlichen Institutionen in Sachsen – und zum Teil auch im Rest des Ostens – unter grossem innerem und äusserem Druck von rechts stehen. Und das, bevor die AfD überhaupt in die Nähe der Macht gekommen ist.
Der Vergleich mit dem Frosch, der sein Sterben im langsam erhitzten Wasser nicht mitbekommt, ist übrigens Quatsch. Natürlich flüchten Frösche auch, wenn es langsam zu heiss wird. Ebenso wenig gibt es ein Naturgesetz, das einen zwingt, sich den Verfall einer Demokratie schweigend mitanzusehen.
Dieser Artikel wurde zuerst auf «Zeit Online» veröffentlicht. watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.