Diese Wahl war eine Überraschung. Nur wenige hatten mit dem 76-jährigen Jorge Mario Bergoglio gerechnet – doch es war der Jesuit aus Argentinien, der am 13. März 2013 das Rennen machte und im Konklave zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde. Schon sein erster Auftritt als Papst Franziskus war symbolträchtig: Er verzichtete auf den prächtigen Ornat und trug weiterhin ein Brustkreuz aus Eisen statt aus Gold.
Die ostentative Abkehr von der üblichen päpstlichen Prachtentfaltung bestärkte allenthalben Hoffnungen, der neue Pontifex Maximus werde frischen Wind in die staubigen Gemächer der Kurie bringen. Bald erfreute sich der charismatische Franziskus – ganz im Gegensatz zu seinem Vorgänger, dem stockkonservativen Theoretiker Benedikt XVI. – einer enormen Beliebtheit beim Kirchenvolk und den sonst so kirchenfeindlichen Medien. Wie einst Gorbatschow der verkrusteten Sowjetunion Glasnost und Perestrojka brachte, so sollte der überall als Hoffnungsträger apostrophierte Papst dringend notwendige Reformen in die Wege leiten.
Seine Kritik an den Folgen eines überbordenden Kapitalismus – «diese Wirtschaft tötet» – entzückte sogar antiklerikale Linke. Sein Aufruf, den Klimawandel entschieden zu bekämpfen, liess nicht nur grüne Herzen höher schlagen. Und seine Sorge um das Schicksal der «Brüder und Schwestern Migranten» bewies soziales Engagement. So brachten selbst jene Teile der westlichen Gesellschaft, die sonst in der katholischen Kirche ein frauenfeindliches, illiberales Relikt aus düsteren Zeiten sehen, dem neuen Papst durchaus Sympathie entgegen.
Von dieser Sympathie ist fast sechs Jahre nach Amtsantritt nicht mehr viel übrig. Sie beruhte ohnehin auf einem Missverständnis. Wenn Franziskus Abtreibungen mit den Verbrechen der Nazis vergleicht, wenn er Protestanten und wiederverheirateten Geschiedenen die Kommunion verwehrt, wenn er die Frauenordination ablehnt, die Verhütung verbietet und praktizierte Homosexualität als Sünde bezeichnet, dann tut er dies nicht, weil er plötzlich reaktionär geworden wäre. In Fragen der Lehre ist Franziskus beinahe so konservativ wie seine beiden Vorgänger.
Es zeigt sich, dass der neue Papst weit eher mit seinem Stil der Bescheidenheit und Herzlichkeit punktete als mit konkreten Reformschritten. Und es zeigt sich, dass Franziskus eben gar kein Reformer im Sinne einer strukturellen Erneuerung ist, sondern den Umgang der Kirche mit den Ärmsten, den Gepeinigten und den Sündern reformieren will. Deshalb ruft er dazu auf, Homosexuelle nicht zu verdammen – und weigert sich zugleich, die Lehre in dieser Frage der Sexualmoral anzutasten.
Womöglich ist es vor diesem Hintergrund zu sehen, warum der Papst in seiner Abschlussrede am Anti-Missbrauchsgipfel in Rom zuerst auf Kinderprostitution, Kinderarbeit und Kindersoldaten hinwies, bevor er überhaupt auf den Kindsmissbrauch in der Kirche zu sprechen kam. Doch die Botschaft, die wirklich ankam, war die einer schon fast obszönen Relativierung ebendieses Missbrauchs. Damit dürfte Franziskus nun auch noch seine letzten liberalen Apologeten enttäuscht haben. Der Lack des «Hoffnungsträgers» ist endgültig ab.
Zugleich war diese enttäuschende Abschlussrede aber auch eine Konzession an die Adresse jener Bischöfe aus Asien und Afrika, die in dieser Debatte um sexuellen Missbrauch lediglich eine westliche Obsession sehen – wie in der Diskussion über Themen wie Homosexualität oder Frauenordination auch. Mehr als alles andere fürchtet Franziskus wohl die Spaltung der Kirche, und der erste lateinamerikanische Papst weiss sehr wohl, dass diese Kirche nicht nur aus liberalen europäischen und amerikanischen Katholiken besteht.
So sollten vielleicht auch jene fortschrittlichen Kreise im Westen, die auf die Reformfähigkeit der katholischen Kirche hofften, endlich einsehen, dass deren Beharrungsvermögen weit stärker ausgeprägt ist, als man annehmen wollte. Und dass es womöglich besser wäre, diese zählebige Institution absterben zu lassen, statt sie reformieren zu wollen.