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Kindsmissbrauch in Münster: Ein Betroffener erzählt von seinem Fall

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Jörg wurde als Kind missbraucht – der Fall in Münster brachte vieles wieder hoch

10.06.2020, 07:5210.06.2020, 13:38
Julia Dombrowsky / watson.de
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Seitdem deutsche Polizisten einen riesigen Kindesmissbrauchsfall in Münster aufgedeckt haben, überschlagen sich die Nachrichten dazu. Je tiefer die Ermittler graben, desto erschreckender scheinen die Erkenntnisse: Gleich mehrere Jungs wurden Opfer von Männern, die sich an ihnen vergingen und die Taten auch noch filmten und verbreiteten.

Wie sich die betroffenen Kinder nun fühlen müssen, möchte sich niemand vorstellen. Und doch gibt es Menschen, die eine leise Ahnung haben, wie es ihnen geht. Jörg Schuh ist so jemand. Er selbst wurde im Kindesalter missbraucht und hat bis heute damit zu kämpfen. Mit watson sprach er darüber.

Wie Münster alle Bilder der Kindheit zurückholte

Jörg Schuh wirkt eigentlich wie ein gelassener Mensch. Nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Doch als er sich diese Woche mit der Zeitung zum Morgenkaffee hinsetzte, fuhr ihm eine Nachricht direkt ins Herz: Seite eins. Münster. Mindestens drei Jungs im Alter von fünf, zehn und zwölf Jahren missbraucht. Von mehreren Männern in einer Gartenlaube. Von «unfassbaren Bildern der Gewalt» ist die Rede.

Jörg erstarrt. «Ich musste die Zeitung wirklich weglegen, was ungewöhnlich ist, da ich täglich mit dem Thema zu tun habe», sagt er. Der Sozialpädagoge arbeitet seit 2009 für den Tauwetter e.V. [e.V. = eingetragener Verein, Anmerkung der Schweizer Redaktion], einer Anlaufstelle für Männer, die als Kinder sexualisierter Gewalt ausgeliefert waren. Doch er ist auch selbst einst betroffen gewesen. «Als ich Münster sah, kamen all die alten Bilder und Ängste wieder hoch. Auch ich war damals zwischen acht und zwölf Jahre alt.»

«Ich hatte eine unfassbare Wut in mir.»
Jörg zu watson

Damals gab er sich selbst eine Mitschuld, wenn sein grosser Bruder, der sechs Jahre älter war, ihn aufforderte, ihn zu befriedigen. Heute weiss er, dass das für misshandelte Kinder typisch ist. «Man ist vielleicht auch neugierig. Man will es nicht, aber gerade, wenn es liebe Menschen sind, die so etwas von dir wollen, denkt man: Vielleicht muss das so.» Der Täter sei ja kein Teufel gewesen, sondern eben auch «mein grosser Bruder, den ich sehr geliebt habe».

Vier Jahre lang nutzte dieser alltägliche Situationen aus, wenn er mit Jörg alleine war. «Er hat Situationen geschaffen, wo er frei walten konnte, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren und er auf mich aufpassen sollte.» Erst verdrängt der kleine Junge das alles. «Man spaltet schlimme Sachen ab, nur der Körper merkt sie sich», sagt er.

Die Familie möchte nichts davon hören

Jörg verdrängt, zieht nach Berlin, beginnt sein Studium. Sein Leben fühlt sich normal an. Bis auf die Tatsache, dass er auffällig schlecht mit Krisen umgehen kann. «Mein Verhalten war aggressiv, ich bin in immer gleiche Muster gefallen, die mein Leben erschwert haben, auch in Partnerschaften.» Zudem belasten ihn verschwommene Bilder aus der Vergangenheit, die er nicht zuordnen kann, aber bis ins Detail beschreiben. «Wie ein wiederkehrender Traum. Ich sah immer mal Szenen, Fetzen, in denen ich meinen Bruder und seine Freunde befriedigen musste.»

So ähnlich kann es auch den Jungen aus Münster ergehen. Sie wurden während ihrer Misshandlungen laut Ermittlern sediert, waren bewusstlos. «Die Kinder wurden gefügig gemacht. Die stehen danach ganz alleine da und wissen nur: Da war irgendwas. Die werden keine Sprache dafür haben, und selbst wenn sie eine fänden – wenn die Mutter damit zu tun hat, dann fehlt die Mutter als mögliche Ansprechpartnerin», sagt Jörg.

Auch er selbst hatte als Kind kein Gegenüber, an das er sich hätte wenden können. Sein Vater war Polizist, seine Mutter Erzieherin. «Alle dachten, bei uns sei alles gut», erzählt er. «Wir wohnten in einer Kleinstadt. Ich hätte nicht gewusst, wem ich davon hätte erzählen können und ich wollte es auch nicht – ich wollte doch nicht, dass meine Familie Ärger kriegt. Ich wollte das mit mir alleine ausmachen.» Er fängt damals an zu stottern. Doch anstatt nach den Ursachen zu forschen, schicken ihn seine Eltern zum Logopäden, um den Mangel zu beheben. Es war ein Hilfeschrei, weiss er heute, der nicht als solcher erkannt wurde.

«Kinder rufen immer nach Hilfe, aber man hört sie nicht.»
Jörg zu watson

Erst mit Ende Zwanzig wendet er sich an eine Beratungsstelle und beginnt, die Bilder in seinem Kopf zu entschlüsseln, sich einzugestehen, was ihm als Kind widerfuhr. Diese Aufarbeitung sagt er, sei für die meisten ein sehr langer Prozess. Und zu diesem gehört es auch, die Familie zu konfrontieren, in seinem Fall den Bruder. «Ich weiss inzwischen, dass er auch andere misshandelt hat. Trotzdem wollte ich mit ihm über uns reden. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er sehr knapp: 'Ich weiss nicht, wovon du sprichst.' Dann brach der Kontakt ab. Ich bin ihm nur noch einmal, beim Tod meines Vaters, begegnet.»

Auch von seiner Mutter kam nicht viel Zuspruch. Als er ihr als Erwachsener davon berichtete, fragte sie: «Warum hast du denn nichts gesagt?» Doch die eigentliche Frage sei doch: Warum hat sie nicht mal nachgefragt? Warum hat keiner etwas bemerkt? «Die Konfrontation mit der Familie und dem Täter ist immer das Schwierigste», weiss Jörg auch aus der Beratungsstelle. Alle haben Schuldgefühle und müssen sich Fehler eingestehen. «Das will keiner. Dabei wollen die meisten Betroffenen gar keine Schuld verteilen. Man möchte einfach nur hören: Das tut mir so leid. Wie kann ich dir heute helfen? Man will ja seine Eltern haben, man möchte nicht alleine gelassen werden.»

Warum Opfer zu oft alleine dastehen

In Münster wurde gegen den Hauptverdächtigen bereits ermittelt, seine pädophilen Neigungen waren dem Jugendamt bekannt, dennoch durfte er weiter mit dem Sohn seiner Freundin zusammenleben, der offenbar zum Hauptopfer wurde. Solche Amtsfehler seien «gerade bei Kindern nur schwer auszuhalten», sagt Jörg. «Manchmal macht es einen schon wahnsinnig, was für unfachliche Menschen da sitzen und Entscheidungen treffen. Das ist doch nicht in den 50er Jahren passiert, sondern jetzt. Was sind das für Experten?»

«Missbrauch wird schneller geglaubt, wenn es durch einen Fremden passierte. Dann muss sich keiner selbst fragen, was er übersehen hat.»
Jörg zu watson

Täter suchen sich oft Kinder aus dem eigenen Umfeld, und wer einen Verdacht hat, sollte ruhig bei einer Beratungsstelle anrufen und seine Beobachtungen erzählen, dort könne so etwas oft besser eingeordnet werden. Auch wenn es kleine Jungs betrifft. «Die werden nicht so schnell als Opfer erkannt. Noch dazu fällt es Jungs oft schwerer, sich Hilfe zu holen, weil sie 'stark' sein wollen.»

Für die Jungen in Münster könnte es in der Zukunft auch noch belastend sein, dass die Bilder ihres Missbrauchs verbreitet wurden. «Diese Ohnmacht ist schlimm», sagt Jörg. «Die Betroffenen wissen nicht, wer ihren Missbrauch gesehen hat, ob ein Passant auf der Strasse die Videos kennt. Meiner Erfahrung nach macht es das oft noch schwerer, abzuschliessen. Jeder, gegen dessen Willen auch nur ein peinliches Partyfoto gepostet wurde, kennt dieses unangenehme Gefühl der Hilflosigkeit. Und das ist ja noch völlig harmlos.»

Auch er selbst arbeitet bis heute an seiner Geschichte: «Ich habe immer noch Bilder im Kopf, die ich nicht zuordnen kann. Da sind zehn Männer in einem Raum, die ich befriedigen muss und ich sehe eine Frau mit Kittelschürze durch die Milchglasscheibe einer Tür», sagt er. «Der Unterschied zu früher ist, dass ich mit diesen Dingen heute besser umgehen kann.»

Hier können Betroffene Hilfe finden

Castagna ist eine Beratungs- und Informationsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer. Hier geht's zur Webseite: www.castagna-zh.ch

Kinderschutz Schweiz ist eine unabhängige Stiftung und gesamtschweizerisch tätig. Als gemeinnützige Fachorganisation machen sie sich dafür stark, dass alle Kinder in der Schweiz im Sinne der UNO-Kinderrechtskonvention in Schutz und Würde aufwachsen. Hier findet man eine Beratungsstelle in der Nähe.
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