Ivo Beck war als Forscher für rund vier Monate auf dem Schiff «Polarstern» im ewigen Eis der Arktis eingefroren. Er gehörte zur «MOSAiC Expedition», die grösste je angelegte Forschungsreise in die zentrale Arktis. Aus seinem Alltag berichtete Beck bei watson schon zweimal:
Mit rund einem Monat Verspätung kam Beck am vergangenen Freitag zuhause an. Hier erzählt er von seiner Rückkehr und wie das Coronavirus langsam in sein Bewusstsein gelangte.
Ivo Beck, du bist seit Freitag zurück in der Schweiz. Wo bist du und wie fühlst du dich?
Ivo Beck: Ich sitze gerade im Garten unserer WG an der Sonne und telefoniere mit dir. Aber die letzten Tage waren wirklich strub. Ich habe das wohl noch nicht alles realisiert.
Du warst vier Monate praktisch «weg von der Welt», irgendwo im ewigen Eis und der Winterdunkelheit der Arktis eingefroren. Als du gingst, war die Welt in Ordnung, vier Monate später ist alles anders. Ich stell es mir ein bisschen so vor, wie wenn du in einer Zeitreisemaschine gewesen wärst und jemand hat den falschen Knopf gedrückt.
Ich kann mich nur wiederholen. Es ist wirklich strub. Alles ist anders. Läden sind zu, wir müssen Abstand halten. Ich habe es wohl bei der Rückreise erst in Bremen realisiert, dass ich jetzt in einer anderen Welt bin.
Warum?
Wir waren vorher wirklich abgeschieden. Wir erhielten zwar News aus der Welt, aber das war alles so weit weg. Und dann kommen wir in Bremen an und gehen erstmals wieder an die Öffentlichkeit. Ich war im Lebensmittelladen erst völlig überfordert: Darf ich da jetzt das Obst und Gemüse anfassen? Oder brauche ich Handschuhe? Dann die Plexiglasscheibe bei der Kasse und die Kassierin, die zum Abschied «bleib gesund» sagt. Es wurde mir klar: Jetzt sind wir in «Coronaland», unser Gefühl von Sicherheit ging schnell verloren.
Du sprichst das Gefühl von Sicherheit an. Ich nehme an, dass ihr auf der Polarstern keine Sorge vor einer Corona-Ansteckung haben musstet.
Genau. Wir hatten sowieso wenig Kontakt zur Aussenwelt, weil das internet sehr langsam lief, wenn überhaupt. Wir erhielten dafür täglich eine Minizeitung mit drei bis vier Seiten. Dort lasen wir dann zwar vom Coronavirus in China. Aber das beachtest du wenig. Es war so weit weg.
Du hättest am 4. März zurück in Tromso sein sollen. Am Ende kam euer Schiff dort am 31. März an. War das dem Coronavirus geschuldet?
Nein, das hatte andere Gründe. Unser Eisbrecher «Kapitan Dranitsyn» benötigte deutlich länger für den Weg zur «Polarstern» als erwartet. Er hätte Mitte Februar hier sein sollen, es wurde Ende Februar. Wir drifteten realtiv weit in den Norden, waren bei gut 88 Grad 36 Minuten Nord. Also nur etwas weniger als anderthalb Breitengrade (rund 160 Kilometer) vom Nordpol entfernt. Die «Kapitan Dranitsyn» hatte Mühe mit dem dicken Eis.
Wie war diese Zeit des Wartens?
Das war sehr schwierig. Wir waren völlig im Blauen. Das AWI kommunizierte schlecht, wann das Schiff bei uns sein würde. Wir hatten alle gepackt, aber wussten nicht, wann es wirklich losgeht.
Wie war euer Stand bezüglich Coronaverbreitung, als ihr die Reise zurück in die Zivilisation machtet?
Es gab dann schon mehr Berichte, aber es war noch immer so weit weg und niemand dachte, dass wir Schwierigkeiten bekommen würden. Wir hatten auch noch ein anderes Problem: Die «Kapitan Dranitsyn» verbrauchte wegen dem vielen Eis mehr als die Hälfte des Diesels auf dem Weg zu uns. Erst hiess es: Sie kommt uns einfach soweit entgegen, bis der Tank halb leer ist. Dann hätte eine Helikopterbrücke aufgebaut werden sollen. Aber das hätte wohl rund drei Wochen gedauert. Wir waren rund 80 Leute, 80 Leute lösten uns ab, dazu kamen rund 30 Tonnen Cargo. Wir mussten Listen erstellen, wer unbedingt zurück muss, wer auch noch bleiben könnte. Diese Ungewissheit, das war schwierig.
Warum fuhr die «Kapitan Dranitsyn» doch bis zu euch?
Wie gesagt: Diese Luftbrücke wäre extrem umständlich gewesen und das AWI charterte dann ein weiteres Schiff, die «Admiral Makarov», das uns entgegenkam und die «Kapitan Dranitsyn» auftanken konnte.
Das scheint geklappt zu haben.
Ja, die Rückfahrt ging einigermassen zügig. Irgendwo nach rund zwei Dritteln der Strecke trafen wir auf die «Makarov». Bis der Diesel aber in unserem Tank war, dauerte es rund fünf Tage. Danach fuhren wir hinter der «Makarov» her.
Aber wir wurden nochmals aufgehalten.
Warum?
Es herrschte ein Sturm bei der Eisgrenze, also dort wo dann wirklich das offene Meer beginnt. Die Wellen waren ein Problem, weil wir auf dem Vordeck einige Container mit wissenschaftlichen Proben geladen hatten. Die hätte es wohl vom Schiff geschaukelt. Wir warteten darum rund 100 Kilometer im Eis nochmals für knapp eine Woche.
Ihr steuertet auf Tromso zu, wie stand es da um das Coronavirus?
Das breitete sich immer mehr aus auf der Welt, gewisse Länder schlossen die Grenzen. Wir hatten eine Norditalienerin dabei, die machte sich natürlich grosse Sorgen. Da dämmerte es den ersten bei uns, dass das Ganze wohl etwas Ernsteres sein würde. Es machten auch Spekulationen die Runde: Wo dürfen wir noch hin? Können wir in Tromso anlegen? Es gab einen Plan B. Wir hätten bis Bremerhaven fahren können. Und wir fragten uns auch, ob wir wohl 14 Tage in Quarantäne müssen. Es war wie in einem schlechten Film.
Aber Angst vor einer Ansteckung musstet ihr nicht haben, oder?
Nein, wir waren clean. Wir waren ja praktisch vier Monate in Quarantäne in der Arktis. Die ganze Situation war absurd.
Gab es da auch Pläne, dass ihr auf der «Polarstern» bleiben würdet?
Nicht wirklich. Wir witzelten ein bisschen darüber. Das Coronavirus war noch weit weg.
Wärst du gerne noch länger geblieben?
Es gab zwei Gruppen. Die einen wollten heim, die anderen wären gerne noch geblieben. Ich gehörte zur ersten Gruppe. Ich freute mich auf meine WG, auf gutes Essen und alles, was mir fehlte. Aber jetzt im Nachhinein würde ich auch gerne wieder gehen. (lacht)
Am 31. März habt ihr im Hafen von Tromso angelegt. Wie ging es da weiter?
Wir durften in den Hafen, aber das Schiff nicht verlassen. Wir mussten noch eine Nacht auf dem Schiff bleiben und wussten nur, dass wir von hier mit dem Flugzeug nach Bremen gebracht werden.
Das stelle ich mir speziell vor. Du bist auf dem sicheren Schiff und weisst: Morgen bin ich definitiv zurück in der Zivilisation. Machte das nicht auch Sorgen?
Eigentlich nicht, wir hatten das Ausmass noch zu wenig erfasst. Es schien eher so, als ob sie «Angst» vor uns hatten. Dabei waren wir ja auf jeden Fall nicht infiziert.
Ihr konntet dann an Land gehen?
Ja, am nächsten Morgen holten uns drei Busse ab. Das geschah alles sehr kurzfristig. Wir kamen mit niemandem in Kontakt bis zum Flughafen. Das AWI hatte für uns einen Charterflug gebucht. Im Flughafen war es wiederum speziell. Wir reisten als grosse Gruppe, standen alle nahe beieinander, es gab ja für uns keinen Grund, auseinander zu stehen. Aber alle anderen hielten sich an Abstandsregeln und schauten teilweise komisch.
Dann ging es nach Bremen. Hier wurde dir die Coronakrise so richtig bewusst.
Ja, genau. Das AWI buchte uns eine Unterkunft, den Flug in die Heimat mussten wir selbst besorgen. Zwei Tage später konnte mein Arbeitgeber, die EPFL, mich auf einen Linienflug von
Hamburg nach Zürich buchen. Diese zwei Tage in Bremen waren wie gesagt sehr eindrücklich. Das ganze Ausmass wurde uns klar, als wir die geschlossenen Läden und Restaurants sahen. Und mir wurde klar, ab jetzt bin ich vor dem Virus nicht mehr in Sicherheit.
Aber jetzt sind alle zuhause?
Noch nicht. Besonders hart hat es einen Australier getroffen, der mit seiner Familie in den USA lebt. Weil die Reise länger dauerte, lief sein Visum ab. Er musste auf die US-Botschaft in Berlin und wartet noch auf die Einreisebewilligung.
Wie war es, als du in der Schweiz ankamst?
Das lief alles reibungslos, es war ja fast niemand am Flughafen. Schon in Hamburg waren nur eine Handvoll Leute unterwegs, im Flugzeug waren wir zu elft.
Und an die Situation hast du dich schnell gewöhnt?
Es war schon eine «Schockübung». Ihr wurdet hier in den letzten Wochen langsam darauf vorbereitet, ich musste alles von einem Tag auf den anderen lernen und umsetzen.
Was vermisst du am meisten?
Hach, ich hatte mich auf so viele Sachen gefreut: Richtig gut Pizza essen gehen, einfach mit Kollegen in einem Cafe an der Sonne sitzen und plaudern, auf Skitouren gehen, Fussball spielen.
Hast du deine Familie und Freunde schon wieder gesehen?
Nein, bisher nur die Leute aus meiner WG. Mit den anderen habe ich einfach per Whatsapp oder so Kontakt. Aber es fühlt sich schon sehr speziell an.
Immerhin: Nach vier Monaten auf einem Schiff in der Arktis bist du eigentlich Quarantäne-Profi. Wie war diese Zeit für dich im hohen Norden?
Man hat immer etwas zu tun. Dann merkst du erst gar nicht, dass du nicht gross raus kannst. Einzelne Tage kannst du einfach durchbringen, aber auf die Dauer wird es schwierig.
Wie lief das bei euch?
Wir konnten ins Gym, in die Sauna und zweimal die Woche hatte die Bar offen. Ansonsten spielst du die immer gleichen Spiele mit den immer gleichen Leuten. Da würdest du schon gerne mal raus gehen und es fängt an zu nerven.
Das ist wohl gerade etwa die Situation, die viele hier in der Schweiz jetzt kennen. Was rätst du?
Mir half, dass ich die immer gleiche Routine angepasst habe. Das können kleine Dinge sein. Mal stehst du eine Woche früh auf, dann schläfst du eine Woche länger aus. Du brauchst einen Tagesablauf, aber es hilft auch, wenn du den immer mal wieder etwas anpasst.
Was war dir sonst noch wichtig? Nicht nur während der «normalen Zeit» auf dem Schiff, sondern auch, als ihr nicht wusstet, wie es weitergeht?
Extrem wichtig ist es, offen zu diskutieren. Auch wenn man noch keinen Plan hat, dann wenigstens sagen: Ich weiss noch nicht, wie es weiter geht, aber wir arbeiten daran. Das hätte mir sehr geholfen. Dieses Schweben im luftleeren Raum, das nagt, macht hässig und mürrisch.
Du hast zusätzlich die Sonne lange nicht gesehen. Wie war das so in der Dunkelheit?
Auf dem Schiff ist es ja immer beleuchtet. Das fühlte sich dann so an, wie wenn du hier im Winter arbeiten gehst: Du verlässt das Haus im Dunkeln und kommst zurück, wenn es wieder dunkel ist.
Das war alles?
Nein, mit der Zeit merkst du schon, dass da was fehlt. Vielleicht bist du etwas weniger gut drauf.
Und als du dann die Sonne wieder sahst?
Es fängt anders an: Du siehst erst in der Dämmerung wieder blauen Himmel, es wird wieder hell, aber die Sonne schafft es noch nicht über den Horizont. Da dachte ich: krass. Das ist schon super. Du siehst die ganze Weite der Arktis, Schnee bis zum Horizont.
Und der erste Sonnenaufgang?
Auch der war super. Aber du vergisst sehr schnell wieder, wie es im Dunkeln war. Ich bin jetzt drei Tage in der Schweiz, sitze, wie gesagt, im Garten – und es ist für mich schon wieder normal, dass da die Sonne scheint.
Wie lange kannst du den Garten noch geniessen? Oder anders gefragt: Wie geht es für dich weiter?
In der WG machen alle Homeoffice. Das steht für mich dann auch an. Ich wollte eigentlich eine Woche Ferien machen. Jetzt brauche ich diese wohl, um wirklich zu realisieren, was hier abläuft.
Tromso finde ich nur mit einem diagonal gestrichenen o am Ende und auf deutsch ist das Tromsö. Aber eben abgesehen davon sehr interessant und für den Mann sicherlich eben sehr speziell zurück in eine solche Situation zu kommen.