Herr Reynard, was hat der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont Ihrer Meinung nach mit seiner Rede bezweckt?
Mathias Reynard: Es war ein letzter Versuch, Madrid die Hand zu reichen und gemeinsam über eine Lösung zu diskutieren. Aber die spanische Regierung erstickte diese Hoffnung sogleich wieder im Keim. Sie machte deutlich, dass sie nicht gesprächsbereit ist. Nun müssen die Katalanen zu anderen Mitteln greifen, wenn Sie das Ziel der Unabhängigkeit tatsächlich erreichen wollen. Das ist wohlgemerkt meine eigene Meinung, nicht jene meiner Partei.
Sie kennen Carles Puigdemont persönlich. Glauben Sie, dass er sich getraut, Katalonien gegen den Willen Madrids in die Unabhängigkeit zu führen? Er riskiert, beim Versuch im Gefängnis zu landen.
Ich kann nicht sagen, was er vorhat. Ich werde Ende Monat nach Barcelona reisen, bei meinen Besuchen in der Stadt treffe ich mich jeweils auch mit Puigdemont. Ich hoffe, dass es auch dieses Mal wieder klappt. Im Moment kann ich nur wiedergeben, was ich von meinen Freunden in Barcelona höre. Viele, die davor selber gegen eine Abspaltung waren, sagen: «Jetzt reicht es.» Wenn es keinen Platz gibt für Diskussionen, sehen sie nur einen Weg: Raus aus Spanien. Rajoys Abfuhr hat ihren Kampfgeist geweckt.
Dass sich die Separatisten doch noch mit dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy einigen, schliessen Sie komplett aus?
Ich glaube, es gibt in der spanischen Bevölkerung sehr viele Leute, die offen für Gespräche wären. Aber die Haltung von Rajoy ist verrückt und unverständlich. Die Zentralregierung muss mit ihren Methoden der Gewalt und der Repression, diesem Erbe aus der Zeit Francos, brechen. Leider gibt es derzeit keine Anzeichen dafür, dass er noch Einsicht zeigen könnte.
Glauben Sie denn wirklich, dass es Katalonien allein besser ginge? Grosse Unternehmen haben bereits angekündigt, der Region aufgrund der Unsicherheit den Rücken zu kehren.
Ich will gar keine Position beziehen. Katalonien kann innerhalb und ausserhalb Spaniens fortbestehen. Sicher ist nur: Die Situation, die wir jetzt sehen, ist traurig für Katalonien, und sie ist traurig für Spanien.
Auch in der Schweiz könnte sich ein Kanton nicht einfach vom Rest des Landes lossagen.
Natürlich, und das ist auch richtig so. Aber aus Schweizer Sicht ist es schlicht unvorstellbar, dass man in einer solchen Situation nicht miteinander redet und die Regierung des Landes einfach auf stur stellt. Die Beispiele des Kanton Jura und der Gemeinde Moutier zeigen, dass wir solche Fragen mit Diskussionen und Volksabstimmungen lösen. Das Verhalten der spanischen Zentralregierung hingegen ist für die Leute in Katalonien ein Affront sondergleichen.
Was, wenn es auch dieses Mal wieder nicht klappt mit dem Traum der Unabhängigkeit? Droht die Situation in Katalonien zu eskalieren?
Die Stimmung ist momentan brutal angespannt. Eine Eskalation ist nicht auszuschliessen. Aber ich will nichts heraufbeschwören.
Dass Puigdemont sich zwar für die Unabhängigkeit aussprach, diese sogleich aber wieder aussetzte, sorgte im Netz für Spott. «Puigdemont oder der Coitus interruptus», lautete etwa der Kommentar eines Users auf Tweitter.
#Puigdemont o el coitus interruptus #Cataluña #Catalunya
— Eduardo Yribarren (@eyribarren) 10. Oktober 2017
So the first action of the new Catalan Republic was to… suspend their own independence?#10Oct #Catalunya pic.twitter.com/VFHvPPQcXC
— Bruno B. (@brunomb86) 10. Oktober 2017
8 seconds between announcing the independence and announcing its suspension #Catalunya #CatalanReferendum pic.twitter.com/aVIGQNFatr
— Regaa (@AhmiidRagab) 10. Oktober 2017