Narendra Modis Ansage war unmissverständlich: «Wenn ihr diese 21 Tage nicht durchhaltet, wird dieses Land um 21 Jahre zurückgeworfen», sagte der indische Premierminister am Dienstagabend in einer Fernsehansprache. Genau vier Stunden Zeit gab Modi seinen 1.3 Milliarden Landsleuten, um die nötigen Einkäufe zu erledigen, bevor sie sich für drei Wochen in ihre Behausungen zurückziehen und diese unter keinen Umständen mehr verlassen sollten.
Wer gegen die Verordnung verstösst, riskiert eine Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr. Kein Land der Welt hat bislang eine strengere Regel im Kampf gegen die Coronaepidemie erlassen.
Der absolute Stillstand ist laut Experten allerdings der einzige Weg, um das Land vor einer humanitären Katastrophe zu bewahren. Die Spanische Grippe tötete 1918 schätzungsweise 18 Millionen Inder (rund sechs Prozent der damaligen Bevölkerung).
Das Coronavirus dürfte einen ähnlichen Todeszoll fordern, wenn Indien nicht sofort stillsteht. Die tiefen offiziellen Zahlen – 606 Infizierte und 10 Tote – dürften das wahre Ausmass der Coronakrise in Indien kaum realistisch widerspiegeln.
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Doch so streng Premierminister Modis Vorgabe ist, so schwierig wird es sein, sie umzusetzen. Martin Gaenszle, Professor am Institut für Südasienkunde der Uni Wien, sagt auf Anfrage: «Die ärmere Bevölkerung hat keine Kühlschränke. Eine Vorratssicherung für drei Wochen bei den herrschenden Temperaturen (in Delhi ist es derzeit über 30 Grad warm) ist kaum möglich. Selbst der starke Mann Modi wird hier Chaos nicht verhindern können.»
In zahlreichen Städten kam es nach Modis Ansprache zu Panikkäufen. Die öffentlichen Verkehrsmittel waren heillos überfüllt. Erschwerend hinzu kam in den ersten Stunden der Ausgangssperre die Überreaktion der Sicherheitskräfte. Die Polizei habe für die Versorgung zentrale Lebensmittel- und Medikamententransporte grundlos gestoppt, erzählt Nicolas Martin, Indologe an der Uni Zürich.
Völlig unrealistisch ist zudem die Durchsetzung der Social-Distancing-Regel in Indien, wo traditionell mehrere Generationen im selben Haushalt wohnen. In der Hauptstadt Neu Delhi leben bis zu 36000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Die Millionen, die in Indiens Slums wohnten, müssten täglich stundenlang Schlange stehen, um überhaupt an Wasser zu gelangen, erzählt Indologe Nicolas Martin. «Abstand halten ist da schlicht unmöglich.»
Indien hinkt dem Coronaverlauf Italiens schätzungsweise zwei bis vier Wochen hinterher. In den kommenden Tagen dürfte die Anzahl Erkrankter dramatisch ansteigen. Das Land ist mit einem Spitalbett pro 2000 Personen (sechsmal weniger als Italien) schlecht darauf vorbereitet. Viele indische Städter sind zudem durch die extreme Luftverschmutzung vorbelastet.
Der Zustand von Indiens Spitälern gibt wenig Anlass zu Hoffnung. «Das öffentliche Gesundheitssystem ist seit Jahrzehnten unterfinanziert. Ressourcenknappheit herrscht auch im Normalzustand», sagt Sandra Bärnreuther, die als Assistenzprofessorin an der Uni Luzern zu Indiens Gesundheitspolitik forscht. Gesundheit sei allerdings Sache der Bundesstaaten, und da gebe es auch positive Meldungen. Aus West-Bengalen, zum Beispiel, wo jetzt ein ganzes Spital leer geräumt und zu einem Coronanotfallzentrum umfunktioniert werden soll.
Davon profitieren werden in erster Linie wohlhabende Bevölkerungskreise. Schlimm steht es um die 1.8 Millionen Obdachlosen. Indologe Nicolas Martin warnt: «Wenn alle Restaurants zu sind und niemand mehr auf den Strassen ist, werden sie nichts mehr zu Essen finden. Ihnen droht der Hungertod.»
Indische Medien schreiben von der Gefahr einer «sozialen Revolte», die sich nach der ersten Pandemiewelle bilden könnte. Neun von zehn Indern arbeiten im informellen Sektor, oft als Tagelöhner, ohne Ersparnisse oder sonstige Absicherungen. Auch für sie droht der Stillstand der indischen Wirtschaft zur tödlichen Falle zu werden.
Viel Kraft, Indien.
Und hier machen sich welche Sorgen, sie kriegen zu wenig Essen in dieser Zet.