Jeremy Corbyn kann es derzeit wohl niemandem recht machen. Am Wochenende feierte der Chef der Labour-Partei das jüdische Pessachfest – das dieses Jahr mit dem christlichen Osterfest zusammenfiel – in seinem Londoner Wahlkreis mit Vertretern der Vereinigung Jewdas, die sich sich selbst als «radikal» bezeichnet. Für Kritiker ist sie antizionistisch und israelfeindlich.
Jewdas operiert auch mit satirischen Mitteln, was sich nicht zuletzt im doppeldeutigen Namen ausdrückt. Nur wenige in Grossbritannien fanden Corbyns Anwesenheit an ihrem Sederabend jedoch besonders witzig. Die Labour-Abgeordnete Angela Smith bezeichnete sie als «eklatante Absage an die Aufforderung, den Antisemitismus innerhalb der Partei zu bekämpfen».
Bei Labour liegen die Nerven offenkundig blank. Seit Tagen müssen sich die Partei und besonders ihr Vorsitzender mit Vorwürfen aus den Reihen britischer Juden herumschlagen, sie würden nicht ernsthaft genug gegen judenfeindliche Strömungen in den eigenen Reihen vorgehen. Für die grossen, überwiegend rechtslastigen Zeitungen ist die Kontroverse ein gefundenes Fressen.
Der 68-jährige Jeremy Corbyn war lange ein Aussenseiter am linken Rand von Labour. 2015 wurde er von der Parteibasis, die sich nach einer authentischen «linken» Politik sehnte, überraschend zum Vorsitzenden gewählt. Nach dem starken Abschneiden von Labour bei der vorgezogenen Unterhauswahl vor einem Jahr ist Corbyn als Parteichef weitgehend unbestritten.
Mit seiner Wahl fühlten sich aber auch jene Kreise im Aufwind, die mit radikalen Positionen etwa im Nahost-Konflikt flirten und dabei die Grenze zwischen Israelkritik und Judenfeindlichkeit auch einmal überschreiten. Mehrere Mitglieder wurden in den letzten Jahren aus der Partei ausgeschlossen.
Der prominenteste Fall betrifft den früheren Londoner Bürgermeister Ken Livingstone. Er hatte behauptet, Adolf Hitler sei ursprünglich Zionist gewesen und habe die Ansiedlung von Juden in Palästina unterstützt, «bevor er verrückt geworden ist und sechs Millionen Juden umgebracht hat». Livingstones Parteimitgliedschaft wurde deshalb auf unbestimmte Zeit suspendiert.
Dem Labour-Chef werden Sympathien für die palästinensische Hamas und die libanesische Hisbollah nachgesagt. Zum Vorwurf gemacht wird Corbyn vor allem, dass er 2012 eine Facebook-Kampagne für den Erhalt eines Wandbilds im Osten Londons unterstützt hatte. Es zeigte die vom «Grosskapital» geknechtete Arbeiterschaft. Kritiker bezeichneten die Darstellung als antisemitisch.
Corbyn äusserte in einer Erklärung sein aufrichtiges Bedauern, «dass ich das Bild nicht genauer angesehen habe». Dabei ist das inzwischen übermalte Werk des US-Strassenkünstlers Kalen Ockerman alias Mear One nicht eindeutig antijüdisch. Es enthält jedoch Symbole aus dem Repertoire der Verschwörungstheorien wie den Begriff Neue Weltordnung oder die Freimaurer-Pyramide.
Zwei führende jüdische Verbände im Königreich, das Board of Deputies of British Jews und der Jewish Leadership Council, veranstalten am Montag letzter Woche eine Demonstration vor dem Parlament in London. Sie warfen Corbyn in einem Begleitbrief vor, seine linksradikale Weltsicht sei den moderaten jüdischen Gemeinden gegenüber «instinktiv feindlich gesinnt».
In seiner Mitteilung distanzierte sich Jeremy Corbyn so deutlich wie nie zuvor von den «Nestern des Antisemitsmus» in der Labour-Partei. Das Osterwochenende brachte jedoch keine Beruhigung, und das nicht nur wegen Corbyns Teilnahme am Jewdas-Seder. Am Samstag musste Christine Shawcroft aus dem Parteivorstand zurücktreten, dem sie während 19 Jahren angehört hatte.
Zum Verhängnis wurde ihr die Unterstützung eines Lokalpolitikers in der Stadt Peterborough, der als Holocaustleugner überführt worden war. Mit Shawcroft verliert Corbyn eine seiner wichtigsten Verbündeten in der Parteileitung. Ersetzt wird sie durch den populären Comedian Eddie Izzard, der die Partei dazu aufrief, den «Makel des Antisemitismus» auszumerzen.
Ein prominentes jüdisches Mitglied hatte da bereits die Konsequenzen gezogen. Sir David Garrard hatte Labour seit 2003 mit 1.5 Millionen Pfund (rund zwei Millionen Franken) unterstützt. Nun verkündete er in der Zeitung «Observer», er empfinde keine Nähe mehr zur Partei. Den Umgang der Führung mit dem Thema Antisemitismus habe er «mit Entsetzen und Unwohlsein» verfolgt.
Ob die Kontroverse der Partei nachhaltig schaden wird, muss sich zeigen. Die frühere Aussenministerin Margaret Beckett sagte der «Times», sie zweifle nicht daran, dass Jeremy Corbyn «persönlich kein Antisemit ist». Er möge es jedoch nicht, andere zu verurteilen. Konkret bedeutet dies, dass Corbyn sich mit dem Wechsel vom Linksaussen mit entsprechender «Narrenfreiheit» zum Parteichef, der auch Kompromisse eingehen muss, nach wie vor schwer tut.
Die «Financial Times» forderte ihn auf, ohne Rücksicht auf Freundschaften gegen antisemitische Tendenzen in seiner Partei vorzugehen und Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft zu kitten. Rassismus gebe es auch in anderen Partein, doch Labour dürfe sich nicht mit «Whataboutismus» begnügen: «Corbyn muss entschieden handeln, um den Ruf seiner Partei wiederherzustellen.»